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# taz.de -- nord🐾thema: Wo die Mistel heilen soll
> Anthroposophische Medizin will Ergänzung zur Schulmedizin sein. Aber was
> kann sie ihr hinzufügen – und worin begründet sich die Kritik, die so
> viele Menschen an ihr üben? Ein Versuch der Erklärung
Bild: In der anthroposophischen Medizin gelten sie als wirksam gegen Krebs: Mis…
Von Maren Knödl
Was ist Anthroposophie? Und was macht anthroposophische Medizin anders als
die klassische Schulmedizin? Um das zu verstehen, muss man einen Blick auf
die Philosophie dahinter werfen. Die geht zurück auf Rudolf Steiner
(1861–1925). Der Österreicher will in einer Art übersinnlichen Erfahrung
Erkenntnisse über die Zusammenhänge in der Welt erlangt haben. Daraus
entwickelte er Leitsätze, die die Grundlage für die Anthroposophie bilden.
Einer davon lautet: „Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige
im Menschen zum Geistigen im Weltall führen möchte.“ Das klingt sperrig.
Für die anthroposophische Medizin, die sich nicht als alternative, sondern
als ergänzende Medizin sieht, bedeutet das: Sie betrachtet die Welt und den
Menschen als Teil eines größeren Ganzen. Wer das professionell tun möchte,
braucht neben einem abgeschlossenen Medizinstudium eine Weiterbildung.
Jens Wagner hat eine konventionelle Hausarztpraxis in Ahlerstedt (Kreis
Stade) und seit anderthalb Jahren auch eine anthroposophische Praxis in
Hamburg. Während er als Hausarzt oft nur etwa fünf Minuten Zeit für jeden
Patienten hat, kann er sich in seiner privaten Hamburger Praxis mehr Zeit
nehmen. Auch gibt es dort kaum Geräte. Die Untersuchung ist ein langes
Gespräch, in dem der Arzt versucht, sein Gegenüber und dessen individuelle
Geschichte zu verstehen. „Das ist wie eine Art Detektivarbeit“, sagt
Wagner.
Das Ziel: Gleichgewicht
Für ihn ist der Mensch mehr als ein „chemischer Organismus“. Als
Anthroposoph befasse er sich „auch mit der Biografie und der Gedankenwelt
eines Patienten“, sagt Wagner. „Viele, die zu mir kommen, fühlen sich von
der Schulmedizin abgefertigt.“ Die Einnahme von Medikamenten erziele vor
allem schnelle, kurzfristige Erfolge.
Der Anthroposophie dagegen geht es darum, ein Gleichgewicht im Leben und im
Körper des Patienten wiederherzustellen. Ihre Therapieansätze sollen
Selbstheilungsprozesse anregen und unterstützen. Das reicht von
pflanzlichen Arzneien über mit Malerei, Musik oder Sprache gegen Stress bis
hin zur Heileurhythmie. Diese von Steiner entwickelte Bewegungstherapie
will bei Nerven- oder Stoffwechselkrankheiten helfen.
Viele Menschen scheint das anzusprechen: 75 Prozent der Deutschen
befürworten eine „integrative Medizin“, also das Zusammenspiel von
Schulmedizin und Naturheilverfahren. Das zeigt eine in diesem Jahr
durchgeführte repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Kantar
TNS. Davon profitieren auch anthroposophische Ärzte: Sie haben immer mehr
Patienten. Und so wächst auch die Zahl der anthroposophischen Mediziner.
Die Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland verzeichnet einen
jährlichen Zuwachs von fünf bis sechs Prozent – aktuell sind es 1.361 in
ganz Deutschland. Und die Nachfrage ist damit nicht gedeckt: „Immer wieder
rufen hier Menschen an, weil sie in ihrem Landkreis keine Praxis finden“,
sagt Natascha Hövener vom Dachverband für Anthroposophische Medizin in
Deutschland. Momentan gebe es, genau wie in der Schulmedizin, ein
Nachwuchsproblem. Gleichzeitig zeichne sich aber bei jüngeren Ärzten ein
gesteigertes Interesse an der Anthroposophie ab.
Es gibt aber auch laute Kritik an der Anthroposophie: zum einen daran, dass
Steiner die Menschheit in verschiedene Rassen mit verschiedenen
Eigenschaften einteilt. Es gibt aber auch Zweifel an der Wirksamkeit
anthroposophischer Methoden. Jens Wagner sieht das anders: „Es ist nicht so
schwer, handfeste Belege für die Wirksamkeit pflanzlicher Mittel zu
finden.“ Wissenschaftliche Studien untersuchen aus seiner Sicht vor allem
kurzfristige Effekte. Demgegenüber ziele die anthroposophische Medizin auf
längerfristige Erfolge ab. „Ein rein naturwissenschaftlicher Ansatz reicht
da nicht aus.“
Wagner hat selbst einige Jahre lang in der Forschung gearbeitet. „An den
Standards, die auf Studien mit Mistelpräparaten angewendet werden, würden
viele andere Mittel scheitern, die heute in der Onkologie eingesetzt
werden“, sagt der Mediziner. Die Mistel, selbst ein Parasit, der andere
Pflanzen befällt, kann Steiner zufolge gegen Krebs helfen. Trotzdem kann
Wagner die Kritik an der Anthroposophie teilweise verstehen. „Auf der
anderen Seite würde ich mir die gleiche Kritik auch für die konventionelle
Medizin wünschen.“
Hilfe für die Helfenden
Das Tobias-Haus im schleswig-holsteinischen Ahrensburg ist ein
anthroposophisch orientiertes Pflegeheim. Auch hier geht es darum, die
Menschen ganzheitlich zu betreuen und auf jeden individuell einzugehen.
„Gerade bei Menschen mit Demenz ist es wichtig zu beachten, dass die
emotionale gegenüber der kognitiven Ebene an Bedeutung gewinnt“, sagt Kati
Borngräber. Die 38-Jährige, die Pflegewissenschaften an der Universität
Witten/Herdecke studiert hat, schreibt in [1][ihrem Blog „kati cares“] über
Senioren und Pflegebedürftigkeit. Gute Pflege zeichne sich vor allem durch
menschliche Nähe aus, sagt sie.
Nach ihrer Erfahrung kommt der anthroposophische Ansatz im Tobias-Haus den
Bewohnern auf jeden Fall zu Gute. „Aber die Anthroposophie ist nicht
zwangsweise die Grundlage für gute Pflege“, weiß sie aus der Erfahrung mit
anderen Pflegeheimen. Im Tobias-Haus profitieren sowohl die Bewohner als
auch die Mitarbeiter*innen von dem ganzheitlichen Ansatz, sagt sie. „Es
wird zum Beispiel oft zusammen gesungen oder getanzt. Das wirkt sich auf
alle Beteiligten positiv aus.“ Und wenn es den Pflegenden gut gehe, werde
auch die Pflege besser, beobachtet die Wissenschaftlerin.
Ob Steiner oder nicht: Dass Genesung und Wohlbefinden viel mit der eigenen
Überzeugung und den Gedanken zu tun haben, beweisen zahlreiche Studien zum
Placebo-Effekt – das heißt: Auch die Schulmedizin erkennt solche
Zusammenhänge zunehmend an. Und die Aussicht, sich selbst zu heilen, statt
etwa von Medikamenten abhängig zu sein, klingt verlockend. Um sich aber von
der Idee der Anthroposophie überzeugen zu lassen, bedarf es ein wenig der
Beschäftigung mit der Philosophie und ihrem Ursprung. Das ist gar nicht so
einfach – zumindest nicht allein mit dem Verstand.
8 Sep 2018
## LINKS
[1] http://www.katicares.com/
## AUTOREN
Maren Knödl
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