# taz.de -- Freikauf vom Wehrdienst in der Türkei: Arme Soldaten | |
> Wer in der Türkei den Militärdienst verweigert, macht sich strafbar. Wer | |
> aber genug Geld hat, kann sich durch eine neue Regelung freikaufen. | |
Bild: „Alles für die Nation!“ – Das gilt vor allem für junge Männer, d… | |
Einst waren es Militärs, die die moderne türkische Republik gründeten. Kein | |
Wunder also, dass Militär und Wehrdienst einen so hohen Stellenwert im Land | |
haben. „Jeder Türke kommt als Soldat zur Welt“, lautet ein oft zitierter | |
Spruch. Bei der Beerdigung ihrer im Gefecht getöteten Söhne hört man Eltern | |
sagen: „Es lebe das Vaterland!“ | |
Nach offiziellen Angaben der türkischen Streitkräfte im August 2018 leisten | |
derzeit rund 316.000 Rekruten ihren Wehrdienst ab. Wer einen | |
Hochschulabschluss hat, dient nur sechs Monate, alle anderen zwölf. Jetzt | |
ermöglicht eine neu eingeführte Regelung, sich gegen Zahlung einer | |
festgelegten Summe von derzeit 15.000 türkischen Lira von der Wehrpflicht | |
zu befreien. Das Verteidigungsministerium gab bekannt, dass bis zum 18. | |
August dieses Jahres 357.350 junge Männer einen Antrag auf Freikauf | |
gestellt hätten. | |
Der 27-jährige Bora Yılmaz* aus Diyarbakır leistet seinen Wehrdienst bei | |
der Gendarmerie im zentralanatolischen Konya ab. Jeden Morgen muss er um 6 | |
Uhr aufstehen. Dann hat er genau 15 Minuten Zeit, um ins Bad zu gehen, sich | |
zu rasieren und anschließend in den Tarnanzug zu springen. | |
Sechs Monate hat er schon abgeleistet, sechs noch vor sich. Bora sagt, er | |
bereue, zum Militär gegangen zu sein. Hätte er noch sechs Monate gewartet, | |
hätte auch er sich freigekauft. „Wie unfair, dass sie jetzt den Freikauf | |
ermöglichen, wo Zehntausende gerade unter Waffen ihrer Wehrpflicht | |
nachkommen. Manche Kameraden sind richtig wütend auf die, die sich jetzt | |
freikaufen“, sagt er. | |
## Wer Geld hat, muss nicht | |
In der Türkei gab es bereits in den Jahren 1987, 1992, 1999, 2009, 2011 und | |
2014 Regelungen, die es erlaubten zu bezahlen, statt den regulären | |
Wehrdienstzeit abzuleisten. 2011 kauften sich knapp 70.000 Männer für | |
16.600 Dollar frei, 2014 waren es gar 203.824 gegen Zahlung von 8.100 | |
Dollar. | |
Staatspräsident Erdoğan spricht immer wieder von der großen Ehre, für das | |
Vaterland zu sterben. Eine Ehre, die seiner Familie wohl erspart bleiben | |
wird: Sein ältester Sohn Burak wurde wegen Untauglichkeit freigestellt. Der | |
jüngere Sohn Bilal leistete gegen Zahlung einen 28-tägigen Grundwehrdienst | |
ab. Am 3. August 2018 unterzeichnete Staatspräsident Erdoğan jetzt die neue | |
Regelung. Danach kann man seinen Wehrdienst gegen Bezahlung von 15.000 | |
Lira, umgerechnet etwa 2.100 Euro, auf 21 Tage Grundausbildung verkürzen. | |
Bora Yılmaz, der im Bereich Marketing arbeitet, kann von dieser neuen | |
Regelung nicht mehr profitieren. Manchmal muss er nachts um zwei raus – im | |
Halbschlaf schlüpft er in den Tarnanzug und geht auf Wache. Es gibt auch | |
Nächte, in denen er die Uniform gar nicht erst auszieht, wenn er schlafen | |
geht. Das sei bequemer, denn das Anziehen zum Wachwechsel koste Zeit. | |
Er vermisst seine Familie, vor allem seine Verlobte. Tagsüber ist er mit | |
der Ausbildung und Reinigungsarbeiten beschäftigt. Am schlimmsten findet er | |
das Kloputzen. „Wehrdienst bedeutet für mich, unter Befehl zu stehen, Druck | |
ausgesetzt und weit weg von der Familie zu sein“, sagt er. Er denkt, dass | |
eine militärische Grundausbildung von 40 bis 50 Tagen für alle ausreichend | |
wäre. „Alles darüber hinaus bringt niemandem etwas“, sagt er. | |
## Nationalkonservativer Wehrdienstverkürzer | |
Der Istanbuler Atılgan Dinç* gehört zu den Hunderttausenden, die sich | |
freikaufen wollen. Er ist in seinem Familienunternehmen, das im Bausektor | |
tätig ist, stark eingebunden, erzählt er. Dass er mit seinen 30 Jahren noch | |
nicht beim Militär war, erklärt er damit, dass er so viel arbeiten musste. | |
Und auch jetzt will er in den besten Jahren seiner Karriere nicht ein | |
ganzes Jahr für den Dienst an der Waffe verlieren. | |
Unternehmer Dinç bezeichnet sich als nationalkonservativ. Bei den Wahlen am | |
24. Juni hat er für das Wahlbündnis von Erdoğans AKP und der extrem rechten | |
MHP gestimmt. Jeder junge Türke sollte eine militärische Grundausbildung | |
machen, findet er. Schließlich müsse man wissen, wie man eine Waffe bedient | |
– um im Notfall das Land verteidigen zu können. „Wenn es möglich ist, das | |
Grundwissen in 21 Tagen zu vermitteln, warum wurde das bisher nicht | |
umgesetzt?“, fragt er. | |
Für Cihan Yorulmaz* macht die neue Regelung keinen Unterschied mehr. Denn | |
er hat ohnehin nicht das nötige Geld, um sich freikaufen zu können. | |
Yorulmaz arbeitet als Wachmann in einer Fabrik, vor ein paar Wochen kehrte | |
er nach zwölf Monaten Wehrdienst in seine Heimatstadt Bursa zurück. Er | |
schiebt Nachtschichten für den Mindestlohn, 1.603 türkische Lira (ca. 227 | |
Euro) verdient er im Monat. Gerade so noch kommt er über die Runden. | |
Yorulmaz stört es nicht, dass die Freikaufregelung unmittelbar nach Ende | |
seines Wehrdienstes beschlossen wurde. Er sagt: „Wie hätte ich mit meinem | |
Hungerlohn denn 15.000 Lira aufbringen sollen?“ | |
Er bezeichnet sich selbst als nationalistisch und ärgert sich über | |
Regierungsanhänger, die sich freikaufen wollen: „Gestern riefen sie: | |
'Führer, bring uns nach Afrin!’, und heute stehen sie Schlange, um sich | |
freizukaufen!“, kritisiert er. | |
## Sakrale Realität | |
Wer in der Türkei den Militärdienst aussetzt, macht sich strafbar. Das | |
Strafmaß liegt bei sechs Monaten bis drei Jahren Haft. Der 44-jährige | |
Şendoğan Yazıcı aus dem osttürkischen Artvin ist einer von zigtausenden | |
Verweigerern aus Gewissensgründen. Dafür steht er vor Gericht. Auf die | |
Frage, ob der Freikauf eine Chance für ihn sei, sagt er: „Ich lehne es ab, | |
menschliche oder ökonomische Ressource für Krieg und Tod zu sein.“ | |
Der Preis für die Verweigerung ist aber hoch. „Sie drohen jungen Leuten mit | |
gesellschaftlichem Druck, mit Verlust des Arbeitsplatzes, mit Rekrutierung, | |
verschrecken sie, drängen sie an die Wand und machen sich dann ihre Ängste | |
und Sorgen zunutze, um ihnen den bezahlten Wehrdienst zu verkaufen“, sagt | |
Yazıcı. | |
In der Türkei sei der Wehrdienst eine soziale Realität, ein „heiliger | |
Initiationsritus“ im Leben eines Mannes, so bezeichnet der Abgeordnete der | |
größten Oppositionspartei CHP Sezgin Tanrıkulu den Wehrdienst. Gleichzeitig | |
sagt er auch: „Alle, ob sie nun Geld haben oder nicht, wollen sich | |
heutzutage dem Wehrdienst entziehen. Er ist zur reinen Pflicht verkommen. | |
Man benutzt ihn als politisches Druckmittel. Es sind die Ärmsten in der | |
Gesellschaft, die heute noch ihre Wehrdienst erfüllen und die in Ausübung | |
des Dienstes ihr Leben lassen.“ | |
Tanrıkulu kritisiert, dass Politiker patriotische Gefühle ausnutzen und den | |
Militärdienst instrumentalisieren. Auch die neue Regelung zum Freikauf sei | |
eine populistische Strategie. Sein Vorschlag: „Statt obligatorischem | |
Wehrdienst müsste es vielmehr Berufssoldaten und eine Wahlmöglichkeit | |
geben.“ | |
* Name von der Redaktion geändert | |
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe | |
21 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Tunca Öğreten | |
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