Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ein Mord wie jeder andere?
> Ein Mann erschießt beinahe einen Syrer. In der Wohnung findet die Polizei
> Nazi-Devotionalien. Ein fremdenfeindliches Motiv vermag die Justiz bisher
> nicht zu entdecken
Bild: Torgau: hübsch und aufgeräumt
Aus Leipzig Konstantin Nowotny
Es gibt Fälle, die taugen zum nationalen Drama. Keine 24 Stunden nach der
tödlichen Attacke auf einen 35-jährigen Deutschen nutzte der rechte Mob in
Chemnitz die Tragödie als Vorwand, um die ganze Stadt zum Brennpunkt zu
erklären, und machte Jagd auf Ausländer. Es gibt aber auch Gewalttaten, die
höchstens in der Lokalpresse auftauchen.
Fast schon heimlich geht in diesen Wochen am Landgericht Leipzig ein
Prozess zu Ende. Dem 44-jährigen Angeklagten Kenneth E. wird vorgeworfen,
im Juli 2017 einem 21-jährigen, aus Syrien Geflüchteten in der sächsischen
Kleinstadt Torgau auf offener Straße zwei Mal in die Brust geschossen zu
haben. Der schwer verletzte junge Mann überlebte knapp. Laut
Gerichtsmedizin verfehlte das Projektil nur um Millimeter das Herz.
Die sächsische Justiz stuft den Fall bisher als einen ganz normalen
Mordversuch ein. Auf eine kleinen Anfrage der Linken-Abgeordneten im
sächsischen Landtag Kerstin Köditz meldete das sächsische Innenministerium,
es habe im Jahr 2017 keine Tötungsdelikte, auch keine versuchten, „aus
rassistischen, fremdenfeindlichen, rechtsorientierten und/oder
antisemitischen Gründen“ im Freistaat gegeben. Zwei Schüsse in die Brust
eines Syrers – nur ein Streit unter Männern, der eskalierte?
Das mag mit einem trüben rechten Auge so aussehen. Für die restlichen
Indizien müsste man sich selbiges aber schon ausstechen. Nach einer
Hausdurchsuchung stellte die Polizei beim Angeklagten zwei Weinflaschen
sicher, auf denen Adolf Hitler und Erwin Rommel abgebildet waren. Kenneth
E. bekundete, er habe diese seinem Schwiegervater schenken wollen. Der sei
schließlich langjähriger NPD-Wähler, und: „Man muss sich ja beliebt
machen.“ Kein rechtsextremes Motiv, nirgends.
„In der Logik der Polizei hätte der Angeklagte mit den gefundenen
Nazi-Flaschen auf die Betroffenen losgehen müssen, damit sie den Fall als
rechte Gewalttat einordnet“, meint Sandra Merth. Sie ist Sprecherin von
„Irgendwo in Deutschland“. Das antirassistische Bündnis hat den Prozess
ausführlich begleitet. „Dass es keinen rechten Bezug geben soll, wird
dadurch noch abwegiger, dass während seiner Haftzeit bereits Bilder von
Nazigrößen in seiner Zelle gefunden wurden“, fügt sie hinzu. Schon einmal
saß Kenneth E. 18 Jahre wegen Mord.
Es gibt aber noch mehr Indizien, die die These der Polizei von einer „ganz
normalen“ Gewalttat in Frage stellen. Bevor in der Julinacht die beinahe
tödlichen Schüsse fielen, gab es Streit zwischen Bekannten von E. und einer
Gruppe um den angeschossenen Syrer an einer Tankstelle in Torgau. Schon
hier soll hier laut einer Zeugenaussage aus der Gruppe der Deutschen der
Satz „Kanaken, verpisst euch in eure Heimat“ gefallen sein. Ein weiterer
Zeuge sprach später im Gerichtssaal von den „Drecksausländern“. Die
Streitszene hatten noch bei der polizeilichen Vernehmung mehrere Zeugen
ähnlich geschildert. Genau wie die Schussszene kurz darauf: Nachdem er vor
seiner Wohnung Tumulte mitbekam, soll Kenneth E. herausgestürmt sein und
sofort aus unmittelbarer Nähe auf die Gruppe der Migranten geschossen
haben.
Monate später vor Gericht kann sich keiner der Beteiligten, weder aus der
Gruppe um Kenneth E. noch aus der Gruppe der Migranten, eindeutig an das
Gesicht des Schützen erinnern. Ein Zeuge berichtet von Drohanrufen, ein
anderer ist seit Beginn der Verhandlung nicht mehr aufzufinden. Der breit
gebaute Kenneth E. beteuert, zur Tatzeit geschlafen zu haben. Die Plädoyers
wurden am Dienstag vertagt, das Urteil soll am 20. September fallen.
Ein fremdenfeindliches Motiv zählt zu den „niederen Beweggründen“, die ei…
deutlich höhere Strafe zur Folge haben. Am ursprünglich vorletzten
Verhandlungstag vergangenen Mittwoch war seitens der Justiz hiervon erneut
keine Rede. Im Juni sagte ein Kriminalpolizist vor Gericht, der Angeklagte
könne schon deshalb kein fremdenfeindliches Motiv haben, da er mit einem
„Ausländer“ befreundet sei. Gemeint ist ein mutmaßlicher Bekannter des
Angeklagten, ein Russe.
Weitere Beweisanträge ziehen die Verhandlung in die Länge. Ob bis zur
geplanten Urteilsverkündung im September noch einmal ein rassistisches
Motiv zur Sprache kommt, bleibt unklar.
„Wenn sich das im Urteil nicht niederschlagen wird, zeigt es die
strukturelle Blindheit einer Justiz, in der nur Rassist ist, wer
NPD-Mitglied ist oder zu Pegida geht“, meint Sandra Merth. Der Mord, der
glücklicherweise ein versuchter geblieben ist, könnte damit zu einem
weiteren Baustein in den „sächsischen Verhältnissen“ werden.
31 Aug 2018
## AUTOREN
Konstantin Nowotny
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.