# taz.de -- Gute Zeiten für Lyrik | |
> Deutschlands meistdiskutierte Hausfassade bekommt ein neues Gedicht. Die | |
> Verse von Barbara Köhler für die Alice Salomon Hochschule sind mutig, | |
> charmant – und traditionsbewusst | |
Bild: So ungefähr wird sie aussehen, die demokratische Kunst am Bau | |
Von Heide Oestreich | |
Es ist, als hätte das Haus Ohren. Und Gefühle. Als hätte das Gebäude der | |
Salomon-Hochschule die ganze Debatte um das Gedicht „Avenidas“ auf seiner | |
Fassade mit angehört und darauf reagiert. „Im Frühjahr waren aufgrund von | |
Rissbildungen Bruchstücke der seit 1998 bestehenden Fassade auf den Gehweg | |
gefallen“, so heißt es in der Pressemitteilung der Salomon-Hochschule, die | |
am Donnerstag verbreitet wurde. Nun sei eine Komplettsanierung fällig. | |
Man muss sagen, das Haus hat so poetisch reagiert, wie ein Haus es nur | |
kann. Ab Herbst, so die Pressemitteilung, wird ein eigens für diesen Anlass | |
geschaffenes, titelloses Gedicht von Barbara Köhler die Fassade der Alice | |
Salomon Hochschule in Berlin-Hellersdorf schmücken. Gomringers „Avenidas“, | |
um das es einen veritablen Kulturkampf gegeben hatte, wird verkleinert. Auf | |
einer großen Edelstahltafel im Sockelbereich soll es nebst einem Kommentar | |
des Autors Platz finden. | |
Kurze Erinnerung: 2011 hatte Gomringer als Dank für den ihm verliehenen | |
Poetikpreis der Hochschule dieser erlaubt, sein Gedicht „Avenidas“ an ihrer | |
Südfassade anzubringen. Es ging um Alleen, Blumen, Frauen und einen | |
Bewunderer. Eine „Konstellation“ aus sechs spanischen Worten, konkrete | |
Poesie, die multipel interpretierbar sein sollte. Der semantische Gehalt | |
der Worte allerdings verleitet dazu, Alleen, Blumen und Frauen als | |
aufgereihte Objekte zu sehen, den Bewunderer als Subjekt. | |
Tausend Jahre Kunstgeschichte in a nutshell, sozusagen. | |
Das Gedicht gefiel den Studierenden der Hochschule, die immerhin vor allem | |
Frauen zu hoffentlich handlungsfähigen Subjekten ausbildet, nicht. Es | |
tradiere den sexistischen Blick des männlichen Subjekts auf das weibliche | |
Objekt, der Asta sah sich gar an sexuelle Belästigung erinnert. | |
Der akademische Senat stimmte dem Antrag der Studierenden zu. Daraufhin | |
begann eine ausufernde Zensurdebatte, in der der Umgang der Nazis mit | |
„entarteter Kunst“ zitiert wurde, die Studierenden für „verrückt“ erk… | |
„barbarischer Schwachsinn“ gemutmaßt wurde. Die Jury des Poetikpreises der | |
Hochschule trat zurück. | |
## Schrift stellen | |
Nun also ist Barbara Köhler angetreten, das Gedicht zu ersetzen. Man muss | |
sie für diesen Mut beglückwünschen. Denn der Kulturbetrieb bleibt bei | |
seiner Haltung. Heinrich Peuckmann vom PEN Deutschland, selbst Lyriker, | |
sagt etwa zur taz: „Barbara Köhler ist eine gute Lyrikerin, keine Frage. | |
Das ändert nichts an der Tatsache, dass das Gedicht von Gomringer hätte | |
bleiben müssen.“ Die Begründung der Studierenden für die Neugestaltung | |
beruhe auf einer einseitigen Interpretation des Gedichts und setze diese | |
absolut. „Das ist falsch.“ Der PEN Deutschland plant, das Gedicht an seiner | |
eigenen Fassade zu platzieren, er zieht demnächst auf die Darmstädter | |
Mathildenhöhe um, da wäre Platz für einen Exil-Gomringer. | |
Barbara Köhler beschreibt ihren Job als „Schrift stellen“, ganz in der | |
Tradition der konkreten Poesie, als deren Pionier Gomringer gilt. Das | |
Gedicht ist zentriert um das Wort „sie“. Ein vieldeutiges Wort. Es markiert | |
das weibliche Geschlecht. Es markiert Vielfalt, den Plural. Und es markiert | |
die ehrerbietende Anrede an eine geschätzte, etwas distanzierte Person. Und | |
fasst damit den Prozess um dieses Gedicht auf eine leichte und sehr | |
konkrete und deshalb Gomringer sehr angemessene Art zusammen. | |
SIE BEWUNDERN. Gomringers lyrischer Bewunderer bewundert die Frauen und | |
Alleen, aber das Publikum bewundert ihn auch. SIE WIRD ODER WERDEN GROSS. | |
Die Debatte, die weibliche Kritik, die Stimmen werden groß, aber auch der | |
Dichter Gomringer wird hier adressiert: Sie, Herr Gomringer, werden groß. | |
ODER KLEIN GESCHRIEBEN. Ja, die Kunstfreiheit wurde großgeschrieben. Herr | |
Gomringer wurde klein geschrieben. Die Studis wurden auch klein- oder | |
großgeschrieben. Und nun stehen sie vor IHNEN, vor Gomringer, aber auch vor | |
uns, dem Publikum, wir sind auch angesprochen. Nun stehen neue Worte vor | |
uns und ihnen. IN IHRER SPRACHE. In Gomringers Sprache oder in ihrer | |
eigenen Sprache. (Gomringer schrieb das Gedicht auf Spanisch). Alles ist | |
aufgehoben. | |
Am Ende beider Gedichte steht eine Entscheidung: Gomringer entschied sich, | |
einen subjektiven Bewunderer, eine einzelne Person in die Szene der Blumen, | |
Alleen und Frauen treten zu lassen, in sein Gedicht treten zu lassen. | |
Köhler entscheidet sich für einen Abschied. Der Bewunderer flaniert weiter, | |
ihm wird noch ein guter Tag gewünscht. | |
Die Objekte machen sich selbstständig. Die Alleen, die Blumen und die | |
Frauen. Der Text macht sich selbstständig, er verabschiedet die Perspektive | |
des Bewunderers. Köhler setzt ein plurales Sie an die Stelle des groß | |
geschriebenen Bewunderer/Bewunderten-Sies. In gewisser Weise ist sie damit | |
radikaler als Gomringer: Die vielfältigen Objekte seines Gedichts wenden | |
sich quasi um und betrachten den Bewunderer. Und dann sagen sie leise | |
Servus. Köhler nimmt die Sprache selbst, das SIE, und entwickelt aus diesem | |
Wort heraus die Dimensionen der gesamten sozialen Plastik, die sich um das | |
Gedicht „Avenidas“ entwickelt hat. Ein Lehrstück in Sachen Demokratie und | |
Kunst ist zu Ende. | |
Die Kontraste hätten nicht größer sein können. Hier die Freiheit der | |
öffentlichen Kunst, die durch die Demokratie historisch erst ermöglicht | |
wurde. Dort ein demokratischer Prozess, der das Dasein eines Kunstwerks im | |
öffentlichen Raum beendet. Es hat so manchen schier zerrissen. | |
Kunstabsolutismus zum Beispiel, der Kunst unbedingt über die Demokratie | |
stellen möchte, da sie uns doch etwas aus einer anderen Welt zu sagen habe. | |
Der Künstler wird quasi zum Gottesboten, das Kunstwerk enteignet die | |
Hauswand. Die Student*innen als Kunstbanausen, Kleingeister und | |
Zensor*innen werden mit nietzscheanischer Verachtung gestraft. | |
Aber auch die Studis machen mit bei dem Kunstvoodoo. Sie suggerieren, das | |
Kunstwerk habe die Macht, Menschen, die sexuelle Gewalt erleben, zu | |
retraumatisieren. Es ist so gefährlich, man muss es verbannen. Und dann | |
noch die Genderdimension: gekränkter alter weißer Mann. Und verletzte junge | |
bunte Studis mit Sternchen und Gendergap. Eine Deadlock-Situation, in der | |
beide Seiten höchste Gefühle mobilisiert haben. | |
In Zeiten sterbender Demokratien steigt das Bedürfnis nach sauberen | |
demokratischen Prozessen. Das Gedicht von Eugen Gomringer ist durch einen | |
wenig demokratischen Prozess an diese Wand gelangt. Die Rektorin fand’s | |
schön. Der Dichter hat’s ihr geschenkt. Das war’s. Kein akademisches | |
Gremium war beteiligt. Demokratien gehen mit Kunst am Bau anders um. Sie | |
bilden eine Kommission, die debattiert, was gut passen würde, was das | |
Gebäude der Welt mitteilen möchte. Dabei werden natürlich auch die gefragt, | |
die es nutzen. Das alles ist im Falle des Gedichts „Avenidas“ nicht | |
passiert. Die Hochschule hat sich entschlossen, diesen Prozess nun | |
nachzuholen. | |
Sie hat etwas Festes wieder flüssig gemacht. Die Wand wird nun alle fünf | |
Jahre neu gestaltet, mit immer anderen Gedichten. Das ist Demokratie. Der | |
Absolutismus stemmt sich dagegen, eine bestimmte Art von Kunst stemmt sich | |
dagegen. Will das Unvergängliche im Vergänglichen sein. Aber können wir | |
nicht alle schon „Avenidas“ auswendig hersagen, mit einem Lächeln auf den | |
Lippen – und in den unendlich vielen Variationen, die im Internet | |
kursierten? | |
So verrückt kann es sein: Die Demokratie hat dieses Gedicht unvergänglicher | |
denn je gemacht. Indem sie es von einer Hauswand verabschiedet. Was | |
schreibt Barbara Köhler: Bon Dia. Good Luck. | |
31 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Heide Oestreich | |
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