# taz.de -- Prozess wegen Präsidentenbeleidigung: Eine Frau sieht rot | |
> Die Rentnerin Aynur Gören beschimpft auf Facebook Erdoğan und | |
> Minderheiten. Nun steht sie vor Gericht. Doch sie will sich den Mund | |
> nicht verbieten lassen. | |
Bild: 'Ich bin eine Tochter Atatürks“, sagt Aynur Gören über sich | |
Nachdem sich die Rentnerin Aynur Gören ein Facebook-Profil zugelegt hatte, | |
war nichts mehr so wie zuvor. Wegen Beleidigung von Staatspräsident Erdoğan | |
wurde ein Verfahren gegen die 67-Jährige eingeleitet, im Januar 2017 musste | |
sie kurzfristig in Polizeigewahrsam. Jetzt muss sie gut 30.000 Lira | |
Schmerzensgeld zahlen, wenn sie nicht ins Gefängnis will. | |
Die Wohnung im fünften Stock eines bescheidenen Wohnblocks im Kreis | |
Mezitli, in der südtürkischen Provinz Mersin ist sauber und ordentlich. Auf | |
dem Couchtisch im Wohnzimmer stapeln sich Medikamentenschachteln. Hier | |
wohnen Aynur Gören und ihr 73-jähriger Mann Fevzi. An die Wände haben sie | |
Poster von Staatsgründer Atatürk gehängt. Aynur Gören trägt das Haar blond | |
gefärbt und Atatürk auch als Kettenanhänger. Seine Signatur hat sie sich | |
auf den Unterarm tätowiert. | |
Aynur Gören stammt aus einer Istanbuler Familie. Sie spricht schnell, | |
aufgeregt und in langen Sätzen, wirkt für ihr Alter sehr vital und erzählt, | |
sie sei 2014 Facebook beigetreten. „Meine Freundinnen waren schon bei | |
Facebook. Ich bat meine Tochter um Hilfe und sie hat mir einen Account | |
eingerichtet.“ Als sie berichtet, was dann geschah, verfinstert sich ihre | |
Miene. | |
Mit dem Klima im Land wurden auch Görens Postings politischer. Aus Protest | |
gegen die Polizeigewalt während der Gezi-Proteste 2013, bei denen 13 | |
Menschen umgekommen sind, benutzte sie für Erdoğan Wörter wie „Mörder“, | |
ehemalige Minister nennt sie „Diebe“. Ein Nutzer zeigte sie wegen ihrer | |
Beiträge an. „Bei den Gezi-Protesten wurden junge Leute getötet“, sagt | |
Gören aufgebracht. „Da brüstete Erdoğan sich, er selbst habe das | |
angeordnet. Also schrieb ich: 'Wenn du das angeordnet hast, bist du ein | |
Mörder.’ Dafür stehe ich jetzt vor Gericht.“ Wird dem Einspruch der Famil… | |
Gören nicht stattgegeben, muss sie inklusive Prozesskosten eine Geldstrafe | |
von 30.000 Lira zahlen. Das Ehepaar verfügt über ein Gesamteinkommen von | |
1.600 türkischen Lira Rente monatlich. | |
## Keine Plattform außer Facebook | |
Derya Demir, eine auf Meinungsfreiheit spezialisierte Anwältin, | |
interpretiert Prozesse wie diesen als „Einschränkung der Meinungsfreiheit“. | |
Die Europäische Menschenrechtskonvention schreibe fest, dass eine | |
Einschränkung nicht dazu führen dürfe, dass ein Recht de facto außer Kraft | |
gesetzt werde. „In den Prozessen unserer Mandant*innen, die vor Gericht | |
stehen, weil sie Erdoğan Mörder oder Dieb genannt haben, weisen wir darauf | |
hin, dass diese Vokabeln als politische Kritik zu verstehen sind, als | |
Kritik an Erdoğans politischen Beschlüssen“, erklärt sie. | |
2017 wurden in der Türkei 6.033 Prozesse wegen Präsidentenbeleidigung | |
angestrengt. Es geht nicht allein um Beleidigung, auch wer sich gegen den | |
Krieg äußert oder offen von einer Wirtschaftskrise spricht, muss mit | |
juristischen Schritten rechnen. Nachdem Erdoğan letzte Woche den | |
„Wirtschaftskrieg“ erklärt hatte, wurden an nur einem Tag 346 Verfahren | |
gegen User eingeleitet, die das Wirtschaftsregime in den sozialen Medien | |
kritisierten. Wie viele Follower*innen sie haben und ob ihre Postings | |
vielleicht nur von Freund*innen gesehen werden, wurde dabei nicht | |
berücksichtigt. | |
Aynur Gören hat sich wegen des Prozesses keineswegs von Facebook | |
abgemeldet. Sie sagt, im Grunde sei sie ein ruhiger Mensch, aber die | |
Ereignisse im Land regten sie auf, deshalb nehme sie mittlerweile | |
Antidepressiva. Sie habe keine Plattform außer Facebook, wo sie ihre | |
Meinung kundtun könnte. | |
## Rassistische Beiträge und Hassdiskurse | |
Aynur Gören ist wütend auf die Regierung, aber die ist nicht das einzige | |
Ziel ihrer Wut. In den sozialen Medien schreibt sie über alle und alles, | |
was sie stört. Sie teilt auch rassistische Postings und bedient | |
Hassdiskurse. Einmal beschimpfte sie etwa die Terrororganisation PKK als | |
„armenische Bastarde“. Formulierungen wie „Armenierbrut“ oder „armeni… | |
Bastarde“ gehören zum Jargon politischer Parteien der | |
rassistisch-faschistischen Rechten und werden dort als Diffamierungen | |
verwendet. „Ja, manchmal schimpfe und fluche ich“, gibt Aynur zu. „Ich ha… | |
viele armenische und griechische Nachbar*innen und Freund*innen in | |
Istanbul,“ sagt sie und fügt hinzu: „Es geht mir bestimmt nicht darum, | |
Armenier zu beleidigen.“ | |
Fevzi Gören sagt, er warne seine Frau manchmal, aber sie lasse mit dem, was | |
sie schreibt eben Dampf ab. Es kommt auch vor, dass sie sich nicht einig | |
sind. „Dann sage ich ihr: 'Schreib das nicht so’ oder 'So hättest du das | |
nicht schreiben sollen’. Aber Aynur schreibt es trotzdem so. Sie sagt eben, | |
wie die Dinge sind.“ Der Ehemann erklärt, sie seien nicht in der Lage, die | |
Geldstrafe zu bezahlen, aber er stehe hinter seiner Frau, egal, was | |
passiert. | |
Nach ihrer Festnahme stieg das Interesse an Görens Beiträgen. Auf Facebook | |
hat sie derzeit über 1.500 Freund*innen und 1.600 Abonnent*innen. „Auch | |
nach dem Prozess mache ich weiter“, sagt sie. „Selbstverständlich stehe ich | |
hinter dem, was ich denke und wofür ich eintrete, aber ich bin jetzt | |
vorsichtiger, damit ich nicht wieder vor Gericht komme.“ | |
## Eine Tochter Atatürks | |
Was Atatürk betrifft, ist Aynur Gören empfindlich. Wer Atatürk beleidige, | |
den beschimpfe sie. Sie strafft sich merklich bei diesen Worten, zieht die | |
Brauen zusammen und legt die Hand aufs Herz. Es gebe Leute, die Atatürk | |
verunglimpfen, die seine Denkmäler attackierten, sagt sie. Die | |
AKP-Regierung würde dazu schweigen. Nach einem Angriff auf ein | |
Atatürk-Denkmal schrieb sie an den Täter gerichtet: „Du Schweinehund, komm | |
nach Mersin, dann brechen wir dir die Beine!“ | |
Nach dem Gesetz zum Schutze Atatürks von 1951 ist es strafbar, Atatürk zu | |
beleidigen. Dennoch werde Atatürk tagtäglich beleidigt, das zeige doch, | |
meint Gören, dass das Gesetz nicht angewendet werde. „Wenn ich die | |
Möglichkeit dazu hätte, würde ich alle, die ihn beleidigen, vor Gericht | |
bringen. So kann ich sie nur beschimpfen“, sagt sie. | |
Aynur Gören ist CHP-Mitglied, die Partei initiierte eine kleine | |
Unterstützungskampagne für sie, doch die gesammelte Summe reicht nicht für | |
die Strafe. Manche gaben nur 50 Kuruş oder eine Lira. Aynur Gören ist sehr | |
erbost darüber. Gekränkt und ärgerlich sagt sie: „Ich werde das Geld nicht | |
annehmen.“ Ihr Mann unterstützt sie. „Es wäre nicht richtig, wenn sie es | |
annimmt. Wir wollen keine Almosen.“ | |
Bei Sonnenuntergang sitzt das Seniorenehepaar auf dem Balkon ihrer | |
gepflegten Wohnung beim Abendessen, nimmt die nötigen Medikamente ein und | |
verfolgt die Nachrichten auf dem Infosender, der den ganzen Tag über läuft. | |
Ein paar Stunden später schreibt die zornige ältere Dame Aynur Gören auf | |
Facebook: „Ich will vor Gericht keinen Anwalt. Ich verteidige mich selbst. | |
Scheitere ich, gehe ich eben bis zum Lebensende ins Gefängnis. Die kriegen | |
mich nicht klein. Denn ich bin eine Tochter Atatürks.“ | |
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe | |
17 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Abidin Yağmur | |
## TAGS | |
taz.gazete | |
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