# taz.de -- brexit: Eine Extrawurst für die Briten | |
> Die EU sollte Großbritannien beim Brexit aus eigenem Interesse entgegen | |
> kommen. Aktuell wäre es nicht ratsam, auf einen starken Partner zu | |
> verzichten | |
Beim Brexit wird es ernst: Premierministerin Theresa May klappert | |
höchstpersönlich die einzelnen EU-Regierungschefs ab, während | |
EU-Verhandlungsführer Michel Barnier festhält, dass auch nach dem Brexit | |
noch eine „beispiellose Partnerschaft“ möglich sei. Die Probleme zwischen | |
EU und Briten seien zu 80 Prozent gelöst. | |
Doch dann kam das Aber: Die Integrität des europäischen Binnenmarkts stehe | |
nicht zur Disposition. Die Briten könnten nicht verlangen, dass die EU die | |
Kontrolle über ihre Grenzen und Rechtsvorschriften aufgibt. Präzise | |
benannte Barnier das zentrale Problem: Nordirland. | |
Die EU stellt sich vor, dass Nordirland nur dann im Binnenmarkt bleiben | |
kann, wenn die Briten eine Zollgrenze zwischen Nordirland und der | |
britischen Hauptinsel hinnehmen. Dies ist für London inakzeptabel, denn es | |
würde einer völkerrechtlichen Abkopplung Nordirlands gleichkommen und den | |
Bürgerkrieg in der Provinz wieder denkbar machen. Die Positionen sind also | |
unvereinbar, ein ungeordneter Brexit, die Katastrophe bahnt sich an. | |
Die Machtverhältnisse sind scheinbar klar: Den Brexit wollen nur die | |
Briten, also sind sie es, die sich bewegen müssen. Es kann doch nicht sein, | |
dass ein einziger Staat von 27 Ländern erwartet, ihm eine Extrawurst zu | |
braten. Am Ende, so denken viele, geschieht es den Briten ja auch recht. | |
Als EU-Mitglied traten sie vor allem auf die Bremse, um den weiteren Ausbau | |
der EU zu verhindern. Die Schuldfrage ist geklärt, und ein bisschen | |
Schadenfreude darf auch noch sein. Diese Haltung klingt auch bei Barnier | |
an. | |
Wäre die EU ein rein ökonomischer Zusammenschluss, hätte Barnier recht. | |
Dann wäre die Verteidigung des europäischen Binnenmarkts einen chaotischen | |
Brexit wert, inklusive des Wiederauflebens des nordirischen Bürgerkriegs. | |
Der wäre eben ein britisches Problem. | |
Sieht man die Europäische Union jedoch als eine Gemeinschaft von | |
politischen Werten – Demokratie, Minderheitenschutz, Friedenswahrung und | |
eine gerechtere Verteilung von Bildung und Chancen – stellt sich die Frage | |
anders. Dann wird aus der rein ökonomischen Sicht Barniers plötzlich ein | |
Problem gesamtpolitischer Verantwortung für Europa – eine Perspektive, die | |
bisher kaum diskutiert wird. | |
Dies ist erstaunlich, wenn man die politische Lage der EU betrachtet: In | |
der Flüchtlingsfrage gibt es kaum Solidarität zwischen den Staaten. | |
Griechenland vegetiert in der sozioökonomischen Dauerkatastrophe. Polen und | |
Ungarn demontieren die Demokratie zugunsten autoritärer Strukturen. Die | |
Türkei ist zur Diktatur mutiert, in der Ukraine wird täglich geschossen, | |
und die baltischen Staaten fürchten, als nächste zum Opfer Russlands zu | |
werden. Die USA wenden sich ab, und Chinas Neue Seidenstraße kommt auf dem | |
Balkan an, wo großzügige Investitionsversprechen ein Wohlstandsmodell | |
propagieren, das ohne die demokratischen Ideale des alten Europas auskommt. | |
Diese Liste ist weder originell noch vollständig. Aber sie zeigt, dass sich | |
die EU in einer Krise befindet und ihre Werte und Strukturen massiv bedroht | |
sind. Deshalb braucht die EU jeden starken, ihr wohlgesonnenen Partner, den | |
sie gewinnen kann. | |
Anstatt sich in die antagonistische Dynamik der Verhandlungen zu verrennen, | |
muss sich die EU die Frage stellen, welche übergeordneten Interessen sie | |
gegenüber den Briten verfolgt. Auf ihrem formalen Machtvorteil – hier 27 | |
Mitglieder, die den Austritt der Briten nicht zu verantworten haben, dort | |
die Briten als Bittsteller – zu beharren, käme einer Erpressung gleich. | |
Vernünftig ist ein solcher Umgang mit dem schwächeren Gegenüber nur dann, | |
wenn man weiß, dass man ihn hinterher nicht mehr braucht. | |
Aber vielleicht hat das Umdenken schon begonnen. Barnier deutet eine | |
Hintertür an, wenn er zu Nordirland erklärt: „Wir sind bereit, den Wortlaut | |
unseres Vorschlags zu verbessern.“ Zunächst klingt dies bloß wie eine | |
Geste, eine Formulierungsfrage. Aber Formulierungen zählen in der | |
Diplomatie: Man kann einen Wortlaut nämlich so gestalten, dass beide Seiten | |
ihr Gesicht wahren und in der Praxis unterschiedliche Interpretationen und | |
Konsequenzen für die Beteiligten möglich sind, ohne dies an die große | |
Glocke zu hängen. | |
Das zeigt ein erfolgreicher und strukturell ähnlicher Fall aus der jüngeren | |
Geschichte: das Viermächteabkommen von 1971 zwischen den West-Alliierten | |
und den Sowjets. Auch hier ging es um den Status eines konfliktträchtigen | |
Gebiets, den von (West-)Berlin. Damals setzte man die Kunst vager | |
Formulierungen und unterschiedlicher Auslegungen geradezu strategisch ein. | |
Indem er juristisch unterschiedliche Interpretationen zuließ, bestätigte | |
der auf Englisch, Französisch, Russisch, nicht aber Deutsch verfasste | |
Vertrag politisch den friedenswahrenden Status quo. Nicht einmal das Wort | |
„Berlin“ kam vor, es hieß lediglich „relevant area“, und das Verhältn… | |
zwischen der Bundesrepublik und Westberlin konnte völkerrechtlich stark als | |
„Bindungen“ oder schwach als „Verbindungen“ gedeutet werden. Bonn konnt… | |
tun, als gehöre Westberlin zu Westdeutschland, und die DDR, als sei | |
„Westberlin“ völkerrechtlich ein dritter Staat. Die vier Mächte sahen zu, | |
und allen war geholfen. | |
Am Ende könnte Barniers vielleicht nur scheinbar beiläufiger Hinweis zum | |
Wortlaut den Weg zur Lösung weisen, um sowohl die staatliche Integrität des | |
Vereinigten Königreichs – der Kern des Problems Nordirland – als auch die | |
Integrität des europäischen Binnenmarkts zu wahren, sodass die Briten in | |
ihren engen und hoffentlich wieder enger werdenden (Ver-?)Bindungen zur EU | |
dazu beitragen, dass ein demokratisches Europa stark bleibt, eines, in dem | |
sie gebraucht werden und zu dem sie auch gehören. | |
[1][ausland] | |
23 Aug 2018 | |
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## AUTOREN | |
Andrew Atukwatse | |
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