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# taz.de -- Aus einer Session geboren
> Jazzer wie Archie Shepp oder Joe Zawinul waran schon in den 1960er Jahren
> durch diesen Stil inspiriert: die erste Ausgabe des Gnaoua Festival
> Berlin bringt nun die Musikkultur einer in Marokko ansässigen Minderheit
> mit hiesigen Künstler*innen zusammen
Bild: Musik aus der Diaspora: Black Koyo
Von Katrin Wilke
Wie dieser Tage zu vernehmen, bekleckert sich Marokko hinsichtlich seiner
Flüchtlingspolitik nicht mit Ruhm. Zudem hat das Land als Besatzungsmacht
der Westsahara seit über 40 Jahren eine ungute offene Rechnung mit den
Saharauis. Doch wurde es auch zur unfreiwilligen Heimstatt einer wunderbar
eigenwilligen Musikkultur, die archaisch anmutet und dabei gut an die
Moderne andocken kann.
Die Gnaoua beziehungsweise Gnawa (Ersterer ist der französische Terminus)
sind eine in Marokko ansässige ethnische Minderheit, deren Vorfahren als
Sklaven aus dem subsaharischen Westafrika im Maghreb landeten. Dort
kultivierten die als Sufi-Bruderschaften zusammengeschlossenen Geheimbünde,
Vertreter eines gemäßigten Islams, ihre (poly)rhythmisch suggestive, für
neue Einflüsse offene musikalische Melange: Der bassig-perkussive Klang der
Gimbri, die betörend rauschenden Metallkastagnetten Qaraqib und die
Fasstrommel T’bol umgarnen gemeinsam die Call- und Response-Gesänge der
Männer (in jüngerer Zeit auch zunehmend der Frauen, die diese maskuline
Musiktradition aufmischen). Die damals wie heute der Vertreibung böser
Geister und der Heilung dienenden, mit Tanz verbundenen Darbietungen können
sich in der dazugehörigen Zeremonie, einer Lila, über Stunden hinziehen und
zu Trance führen.
Dazu wird es nun in Berlin eher nicht kommen, ist doch die auch ohne Ritual
präsentierte Gnawa-Musik ebenfalls längst im Konzertbetrieb angekommen und
in der Weltmusikszenerie global halbwegs etabliert. Insbesondere Jazzer wie
Archie Shepp, Pharoah Sanders (mit ihnen musizierte auch der weltgewandte
Gnawa-Blueser und Berliner Festival-Opener Majid Bekkas) sowie Joe Zawinul
vernarrten sich schon ab den 1960ern in die Musik, machten auf der Bühne
und im Studio gemeinsame Sache mit den Gnawa-Meistern, den Mâalems. Selbst
ein Jimi Hendrix oder ein Carlos Santana ließen sich infizieren und
inspirieren.
Und bis heute treiben die mal mehr, mal weniger geglückten Fusionierungs-
und Annäherungsversuche an diese energetisch spezielle Musiktradition
zwischen Paris, New York oder Brüssel (Konzert 17. 8.) farbenprächtige
Blüten. Davon kann man sich nun also auch ein recht aussagekräftiges Bild
in Berlin machen – zur Freude all der Fans, die ansonsten womöglich ins
marokkanische Städtchen Essaouira pilgern, jenes Gnawa-Epizentrum, wo seit
1998 alljährlich das größte Event dieser Musik stattfindet.
## Der Soundtrack der Heimat
Auch für den Berliner Festivalkurator Alaa Zouiten führte – als Marokkaner
wie auch als stilistisch weit aufgeschlossener, musikalisch neugieriger
Oud-Spieler und studierter Spezialist in Sachen Transkulturalität –
natürlich kein Weg vorbei am Soundtrack seiner Heimat. Als er mit 16
erstmals besagtes Festival, Gnaoua et Musiques du monde, besuchte, sei das
für ihn „das Aha-Erlebnis“ gewesen. Zum ersten Mal sah er Musiker zusammen
auf der Bühne, die für sein damaliges Verständnis eigentlich nichts
miteinander zu tun hatten: etwa Pat Metheny, der mit einem Gnawa-Meister
Stücke aus dessen traditionellem Repertoire spielte.
Damals wurde bei dem jungen Marokkaner die Liebe zum Jazz geweckt und
überhaupt die Lust und Traute, sich in andere Musikgefilde, so auch in den
Flamenco, zu begeben. Heute, 17 Jahre später, betrachtet er das renommierte
Festival in Marokko kraft seiner eigenen vielfältigen Erfahrungen und
Entwicklungen differenzierter, bemerkt skeptisch, wie schnell und teils
oberflächlich dort bisweilen Gemeinschaftsprojekte mit viel Tamtam auf die
Konzertbühne gewuppt werden.
Zouiten selbst möchte den Musikern mehr Zeit einräumen bei der
gegenseitigen Annäherung und Erarbeitung des gemeinsamen Live-Repertoires.
Doch auch viel improvisatorischen Freiraum will das Festival bieten, wurde
es doch auch aus einer Jamsession heraus geboren. Bei der mittlerweile
überaus populären Veranstaltungsreihe Arab Song Jam in der Werkstatt der
Kulturen, die der junge Marokkaner im Wechsel mit einem weiteren
Oud-Spieler aus Syrien hostet, formierte er eine Art Allstar Ensemble in
Deutschland lebender Gnawa-Musiker (Konzert am 18. 8.).
Bald war da auch der Wunsch nach einem ganzen Festival für diese
einzigartige, aus Zouitens Sicht „in Europa eher abwesende Musik, die sich
einst aus politischen und wirtschaftlichen Widrigkeiten heraus, der
Diskriminierung zum Trotz, in einem nichtdemokratischen System entwickeln
konnte“. Eine starke Metapher in diesen Zeiten. Soziopolitisch aufmerksam
und bestens vernetzt ist der kreative Oud-Virtuose und somit wie kaum
jemand derzeit in der agilen Hauptstadt geradezu prädestiniert, ein solches
internationales Festival hier zu organisieren, in das auch die lokale,
teils Gnawa-ferne Szene einbezogen wird.
Masterclasses, die in einem gemeinsamen Konzert gipfeln; ein Vortrag, eine
Ausstellung flankieren die drei attraktiven Konzertabende, an denen auch
der in London lebende Gnawa-Modernisierer Simo Lagnawi und der aus einer
legendären Musikerfamilie entstammende Mâalem Mokhtar Gania zu erleben
sind. Und so wie in Essaouira typisch, wird der Gnawa-Esprit auch durch die
Straßen Neuköllns wehen, bei einer Parade am frühen Freitagabend, die von
einem ähnlichen Eröffnungszeremoniell des Festivals in Marokko inspiriert
ist.
„Es ist eine Utopie“, räumt der Festivalkurator nachdenklich schmunzelnd
ein, „aber ich wünschte mir angesichts einiger energieraubender
Visaprobleme von auftretenden Musiker*innen eine Art Carte Blanche, eine
kulturelle Visafreiheit.“
16 Aug 2018
## AUTOREN
Katrin Wilke
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