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# taz.de -- Ausgehen und rumstehen Von Seyda Kurt: „Drei Zitronen! Werk 5 ans…
Auf dieser Welt wird einem nichts geschenkt, doch an diesem Samstagabend in
einer selbst ernannten „Oase“ auf der Sonnenallee blinken pralle Früchte
und Juwelen in den Tiefen einer Pyramide. Tapfere Forschungsreisende
sammeln sie ein, und der Schatz landet mit einem Knopfdruck auf dem Konto.
Diese Held*innen sind T. und ich: Wir haben zehn Freispiele am
Spielautomaten gewonnen. Bisher lief es nicht gut, doch nun ist das Ganze
ein Selbstläufer, denn Einsatzverlust ist ausgeschlossen. Inmitten unseres
freudigen Jauchzens blafft der Angestellte hinterm Tresen der sonst
menschenleeren Spielhalle: „Trinkt ihr was?“ Ja, im Heiners auf der
Weserstraße.
T. und ich machen uns auf den Weg in die Bar, wo N. heute auflegt, entzückt
über die klimpernden 2-Euro-Münzen in der Jackentasche. A. und J. kommen
dazu. Im Laufe der Nacht verliert die Jackentasche immer mehr an Gewicht,
ich merke, wie weiterhin digitale Früchte vor meinem geistigen Auge
aufblinken. Ich will diesen Knopf noch einmal drücken. Hochtrabend flüstere
ich T. zu: „Wir sind immer noch Teil des Spiels, obwohl wir nicht mehr vor
dem Automaten sitzen.“ T. antwortet: „Funny Games!“ Den gleichnamigen Film
von Michael Haneke aus dem Jahr 1997 haben wir am Vorabend gesehen. Zwei
junge Männer dringen in das Haus einer Familie ein, zwingen sie unter
Folter, Teil eines Spiels zu werden, bei dem sie nur verlieren kann.
Im Heiners erzählt A. von Cybersyn, einem Projekt der chilenischen
Regierung vor dem Putsch in den 1970er Jahren, bei dem alle Einheiten der
Zentralverwaltungswirtschaft durch Computer verknüpft und in Echtzeit
kontrolliert wurden. Eine Art Intranet, wenn nicht der Vorläufer des
Internet. Ich stelle mir vor, wie Verwaltungsangestellte in einer
casinoartigen Zentrale an Spielautomaten den Hebel ziehen und rufen: „Drei
Zitronen! Werk 5 anschalten!“
Ich denke an unseren Gastgeber des Ferienhauses in Brandenburg, in dem T.
und ich die letzte Woche verbracht haben. Wenn Wolfgang, um die 60,
Geschichten erzählte, gab es immer ein „nach der Wende“. Die Zäsur
strukturierte jede seiner Erzählungen. Über das heiße Wetter sagte er: „Das
kotzt den toten Russen an!“, lachte und pflückte Tomaten. Im Hintergrund
wehten die Deutschlandfahnen in den Nachbargärten. Wolfgang und seine
Nachbar*innen wurden ungewollt in ein neues Spiellevel geschleudert, auf
dem Weg dorthin haben sie es sich bequem gemacht, vielleicht zu bequem.
Nach sieben Jahren in Berlin sei er der Stadt überdrüssig, erzählt J. heute
Nacht: „Ich kann in die eine oder die andere Bar gehen, eigentlich immer
dasselbe.“ Ich sehe den Eindringling aus Hanekes Film vor mir, er starrt
geradewegs in die Kamera und fragt: „Hast du schon genug oder willst du
weiterspielen?“ Die Barkeeperin und ihr Kollege ziehen zeitgleich an ihrer
Zigarette und nicken im Takt der Musik.
Später auf dem Heimweg, in der U7, erinnere ich mich an eine andere Szene
aus „Funny Games“. Derselbe Typ, dieselben zynischen dunklen Augen, die die
Zuschauerin anschauen, und er fragt: „Was meinen Sie? Denken Sie, Sie haben
eine Chance zu gewinnen?“ Ich denke daran, wie N. selbstvergessen hinter
seinem Pult tanzte, sich über das Frühstücksfleisch im Glas freute, das wir
ihm aus Brandenburg mitgebracht haben. J., der ihm lachend in die Arme
fiel. A., die eine großartige Geschichtenerzählerin ist. T. legt in der
Bahn seinen Kopf auf meine Schulter, schließt die Augen und sagt: „Ich bin
so müde wie noch nie in meinem Leben.“ Ich lege meinen Kopf auf seinen.
Gewinnen können ruhig andere, solange wir unsere Freispiele bekommen.
14 Aug 2018
## AUTOREN
Seyda Kurt
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