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# taz.de -- Im Labyrinth von Tag und Nacht
> Unterwegs an die Hippieküste von Mexiko, auf der Suche nach dem
> arkadischen Ort – ein Roadtrip durch die Berge der Sierra Madre del Sur
> zum Pazifik
Bild: Der Strand von Zipolite ist der einzige des Landes, an dem man nackt sein…
Von Henning Kober
Das wird ein Kater, ist mein erster Gedanke beim Aufwachen. Mezcal ist ein
teuflischer Schnaps, mein zweiter. Sonntagvormittag in Oaxaca, südliches
Mexiko, 265.000 Seelen. Die Universitätsstadt mit kolonialem Kern ist
angesagt, besonders wegen ihrer regionalen Küche. Der Abend gestern hatte
sich so dahinentwickelt, ein Essen im Restaurant, ein Club mit dem schönen
Namen Luna Rosa, eine Bar mit einer Jukebox, und noch wollte ich nicht
schlafen.
Dies ist eine Entdeckungsreise. Jahrelang war ich immer nur in den USA
gewesen, inzwischen erkunde ich weitere Amerikas. Der Plan für heute: in
die am Horizont aufragenden Berge fahren – und morgen schon am
Pazifikstrand sein, dort, wo kein Massentourismus die Küste prägt, sondern
Love, Peace und Happiness. „Du musst nur noch aufstehen“, sagt mein
Begleiter, und er hat recht.
Vor der Tür des Hotel Nacional wartet der gestern gemietete Nissan Versa,
eine weiße Limousine. Ich setze mich ans Lenkrad, und wir gleiten durch die
Straßen der schachbrettartig angelegten Stadt, langsam hinaus. Die Sonne
steht bereits steil am hellblauen Himmel. Auf der Ausfallstraße Richtung
Süden fährt ein Pick-up-Truck mit vermummten Bundespolizisten, die
automatische Gewehre tragen. Da ist das martialische Bild, passend zu den
Nachrichten vom gescheiterten Gewaltstaat. Entführte Lehrer, bedrängte
Journalisten, tote Polizisten, Kokain und Kartelle. Aber Mexiko ist groß,
und nicht überall ist es schlimm, die Gegend hier gilt zurzeit als
weitgehend friedlich.
Die Stadt bleibt zurück, die Straße verengt sich, der Verkehr nimmt ab.
Warm drückt der Fahrtwind durch die offenen Fenster. Rechts und links
weiten sich Felder, auf denen Agaven angebaut werden. Aus den kaktusartigen
Pflanzen werden Mezcal und Tequila hergestellt. Puerto Escondido, die Stadt
der Surfer, soll unser Ziel sein. Gut 300 Kilometer sind es bis dort,
allerdings führt die Bundesstraße 175 in vielen Kurven durch das Gebirge
der Sierra Madre del Sur. Noch ist es flach.
## Schlange im Rückspiegel
Neben dem Baseballfeld in einer Ortschaft flattert die mexikanische Flagge,
darauf ein Adler, der eine Schlange verschlingt. Aus dem Radio spielt
psychedelische Mariachi-Musik. Die Straße führt durch wüstengleiche
Landschaft, und im Rückspiegel sehe ich eine Schlange, lebendig, das Haupt
erhoben, über die Fahrbahn tanzen. Irgendwann beginnen die Berge. Ein
Händler hat eine Wand aus Wassermelonen aufgeschichtet. Nebel zieht auf. In
engeren Kurven langsam bergauf. Kurven, Kurven, Kurven – und schließlich
erscheint das Ortsschild von San José del Pacífico, dem Dorf auf halber
Strecke.
Die Luft hier ist anders, es ist frisch. Auf 2.440 Metern Höhe fällt das
Atmen schwerer, zudem liegen Mystik und ein Geheimnis in der Luft. Vor
allem ist es wunderschön. Die Cabaña hat große Fenster, und der Blick
reicht weit: bläuliche Bergzüge im Gegenlicht der sinkenden Sonne und
geradeaus unter den sich türmenden Wolken irgendwo viel tiefer das Meer.
Mexiko gleicht einer Aztekenpyramide, in der Mitte hoch, an den Seiten zur
Karibik und zum Pazifik hin steil abfallend.
Das Dorf besteht aus nur zwei Straßen, aber überall gibt es Pilze, als
Graffiti an der Wand, als gestrickte Mütze zum Kaufen, als
Schlüsselanhänger. In warmen Pullovern und mit einer Dose Bier der Marke
Modelo Especial sitzen wir an der Hauptstraße. Nebel zieht den Hang hinauf.
Gelblicher Schein der Laternen, es ist dunkel geworden. Alle zehn Minuten
hält ein als Kotztaxi verschriener Minibus an, Reisende mit Rucksack
steigen ein und aus. An der Ecke steht ein bunt bemalter VW-Bulli,
Gelächter, barfüßige Schritte, Rastahaare. In den 1960er Jahren hatte es
begonnen, die ersten Hippies kamen auf ihrem Weg nach Zipolite.
In der Nacht stehe ich staunend unter dem Sternenhimmel, auch der Mond
leuchtet beinahe voll. Leise rauscht der Wind. Ich will das alles sehen,
hören und fühlen, aber ich denke auch über das nach dem Abendessen
unterbreitete Angebot nach. Der Vermieter, ein zierlicher Familienvater mit
einem guten Gesicht und einem entspannten Ausdruck, war an unseren Tisch
gekommen, und es kam zu einer kleinen, netten Plauderei, in deren Verlauf
er uns „Hongos“ anbot. So nennen die Einheimischen die psilocybinhaltigen
Pilze, die hier wachsen, in Europa bekannt als Magic Mushrooms. In der
Gegend von Oaxaca wurden sie zuerst und wahrscheinlich schon seit 3.000
Jahren von Menschen konsumiert.
Sein Angebot war herzlich unterbreitet. Er würde uns an einen ruhigen Ort
in der Natur führen. Er sei kein großer Schamane, aber ein Mann, der seit
seiner Jugend Zauberpilze konsumiert, nicht um drauf zu sein, sondern um
sich zu befragen, um zu wachsen und eine Reinigung zu erreichen. Die Pilze
waren damals die wohl natürlichste Droge, die es gab, andererseits auch das
Vorbild für LSD. Und eigentlich wollte ich morgen schon am Meer sein.
Am nächsten Tag lassen wir San José del Pacífico hinter uns. Unterwegs zu
sein fühlt sich richtig an. Es kommen neue Kurven, Kurven, Kurven, immer
weitere Kurven. Dörfer, die völlig im Nebel liegen, und andere, die in der
Sonne glänzen. Im nächsten Tal ist es feuchter, Farne wachsen am
Straßenrand und wilde Orchideen. Die Fahrt zieht sich, und ich fühle mich
leicht höhenkrank. Am Nachmittag endlich Puerto Escondido. Die Stadt hat
25.000 Einwohner und den Vorort La Punta, wo die meisten Backpacker und wir
bleiben. Ich renne durch den Garten des Akadia Hostels, unter den Palmen
hindurch, zum Meer und hinein. Endlich. Die Wellen sind mächtig, und ich
lasse mich von ihnen rausziehen und zurückwerfen. Es ist das perfekte
Spiel, da ist er, der heilige Pazifik. Für den Moment bin ich glücklich.
Am Ende des Strands warten die Surfer. Die Mexican Pipe, 1959 entdeckt,
gehört zu den besten Wellen der Welt. Neben den Sportlern gibt es in La
Punta auch Yogis, Kiffer und Veganer. Die Gäste sind jung, und am Abend
mischt sich auf dem zentralen Platz Spanisch mit Englisch, Französisch und
Deutsch. In Huatulco, eine Stunde südlich, gibt es inzwischen einen
Flughafen mit Verbindungen nach Nordamerika, aber in La Punta sind die
Hostels trotzdem noch schlicht. Hier überlebt man auch mit wenig Pesos. Ich
schlafe wie ein Kind.
Am Morgen sitzt Óscar im Garten und dreht seinen ersten Joint. Er ist
klein, braungebrannt und trägt einen Oberlippenbart über dem Lächeln.
Surfer. Seit bald zwei Jahren sei er hier, sagt er, eigentlich kommt er aus
dem Landesinneren. In Arkadien sind wir jetzt nicht. Von der Baustelle
nebenan ertönen laute Hammerschläge. Fünf Stockwerke hoch ist der Rohbau,
der dicht an das kleine Hostel gebaut wird. „Der Typ hat das Geld und die
Macht“, sagt Oscar, „da ist nichts zu machen.“ Wie viele Mexikaner wirkt …
introvertiert, anders, als ich es vor der Reise erwartet hatte. Ich sehe:
einen Mann im Labyrinth der Einsamkeit. Zu jeder Seite gehört jedoch stets
auch die andere Seite. Das ist Dualität, ein Grundprinzip dieses Landes.
Die Azteken haben jeweils der Sonne und dem Mond einen Tempel gebaut. Tag
und Nacht. Tod und Leben. Die gute Seite nimmt der schrecklichen Seite den
Wind aus den Segeln. Introvertiert und extrovertiert. Beides sein. Als ich
vom Schwimmen zurückkomme, ist Oscar im Zentrum eines Menschenkreises. Er
lacht, seine Freundin im Arm.
Weil La Punta doch turbulent und laut ist, geht die Suche nach dem idealen,
angenehmen Ort weiter. Vielleicht ist dieser Ort kein Dorf, sondern bereits
in mir?
Langsam stellen sich die Farben schärfer. Langsam entfalten die Pilze, die
ich vor einer halben Stunde gegessen habe, ihre Kräfte. Der Pazifik
leuchtet licht, und die Wellen rücken näher. Da ist eine eigenartige
Leichtigkeit, da ist Energie und Kraft, und zugleich will ich liegen. Ob
der Hauptstrand von Mazunte der ideale Ort für diese Aktion sein kann? Aber
jetzt ist es zu spät. Mit der Intensivierung der Sinne werden auch die
Gedanken deutlicher. Ich will nicht lachen, weil ich Angst habe zu weinen.
Schließlich raffe ich mich auf und gehe weg vom Strand, den Berg hinauf.
Punta Cometa, hoch über dem Meer. Für eine Weile ist es gut dort, dann
kommen immer mehr Menschen, um den Sonnenuntergang zu sehen, und ich will
lieber nach Hause. Der Mangrovenwald, durch das Fenster betrachtet, wird
schließlich mein Bild. Dort finde ich Ruhe.
Nach fünf Stunden lässt die Kraft der Hongos wieder nach, der Körper
arbeitet zuverlässig und baut das Psilocybin ab. Ich bin etwas enttäuscht.
Aber was hatte ich erwartet? Ich erinnere mich an diesen Nachmittag auf
einem Boot am Russian River in Kalifornien, vor bald zehn Jahren, und an
diese Nacht im Ostgut in Berlin, das war das erste Mal, dass ich die Pilze
genommen hatte, damals war ich 21, und ich ging nicht mit den Freunden nach
Hause, sondern blieb allein im Club. Beides waren starke Erlebnisse. Wie
fern und wie nah mir das vorkommt. Das gleiche Ich, aber nicht dasselbe.
Gut ist: So, wie ich mich heute erinnere, werde ich mich in der Zukunft
einmal an diesen Tag erinnern, und ich werde wissen, wo ich war, auch wenn
ich es jetzt noch nicht richtig sehe.
## Keine Furcht vor dem Tod
Am nächsten Morgen ertönt plötzlich eine Blaskapelle. Vorneweg wird der
Sarg getragen, dahinter ein Trauerzug. Sie haben Blumen in den Händen, und
sie sehen betrübt aus, die Musik aber klingt fröhlich. Keine Droge kann
darüber hinwegtäuschen, wir sterben, jeden Tag ein bisschen und einmal
endgültig. In Mexiko ist der Tod allgegenwärtig, wegen der Gewalt, und weil
die Menschen anders denken und sich mit Totenköpfen umgeben. Ein älterer
Mann tritt an den Sarg. Das Kopfteil wird geöffnet, und kurz sehe ich den
Toten, aber ich schaue gleich weg. Aus Diskretion, aus Scham? Jeden Tag
geht die Sonne auf, und jeden Tag geht sie wieder unter. Dem Tag folgt die
Nacht, dem Leben folgt der Tod. Wenn der Tod wie die Nacht ist, gibt es
doch keinen allzu großen Grund, sich vor ihm zu fürchten.
Zuletzt Zipolite. Der Ort streckt sich an einer langen Bucht und hat
Tradition, der Film „Y Tu Mamá También“ wurde hier gedreht, und seit mehr
als fünfzig Jahren kommen Freigeister hierher. Es ist der einzige Strand
des Landes, an dem man nackt sein darf, aber nicht muss. Viele Freaks sind
hier unterwegs. Ich liege am Strand und lese Octavio Paz’ großartiges Essay
„Das Labyrinth der Einsamkeit“. Dann tagträume ich eine Weile, schlafe ein
bisschen, springe in die hohen Wellen – und ich könnte mir nichts Schöneres
vorstellen.
11 Aug 2018
## AUTOREN
Henning Kober
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