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# taz.de -- Die Geschichte des geschundenen Körpers
> Der Erfolgsautor Édouard Louis erzählt in „Qui a tué mon père?“ („W…
> meinen Vater umgebracht?“) den individuellen Verfall des Vaters entlang
> der Geschichte der französischen Sozialreformen
Bild: Eine für die Picardie typische Ortsansicht. In einem ähnlichen Ort voll…
Von Miryam Schellbach
Die Erfolgsbilanz des gerade 25-jährigen französischen Schriftstellers
Édouard Louis sucht ihresgleichen: Zwei autobiografische Romane, die
Kindheit, Jugend und Adoleszenz inmitten von Armut, Krankheit und Gewalt
erst in der französischen Provinz, dann auch in Paris thematisieren. Es
sind zwei Bestseller, auf die der Schritt in die akademische Welt folgt. In
diesem Sommersemester hatte Louis als der wohl jüngste Kandidat, den die
Berliner Freie Universität je mit dieser Auszeichnung versah, die Samuel
Fischer-Gastprofessur inne. Auch in Berlin blieb er sich treu. Auf der
Lektüreliste seines Seminars zu Literatur und Gewalt standen neben
Marguerite Duras und Toni Morrison auch Michel Foucault, einen
Ehrenauftritt hatte Didier Eribon.
Just vor dem Antritt seiner Professur veröffentlichte Louis nun sein
drittes Buch im französischen Traditionsverlag Éditions du Seuil. Formal
schlägt „Wer hat meinen Vater umgebracht“ neue Wege ein. Im Zentrum des
Textes steht eine nüchtern-diagnostische Schuldbestimmung, flankiert wird
sie von einer anrührenden Liebeserklärung an den durch Armut und Krankheit
gezeichneten Vater. Was den Teil der Anklageschrift angeht, so lässt sich
festhalten, dass zumindest der Angeklagte bereits – etwas erratisch –
reagiert hat. Binnen weniger Tage ließ der Élysée-Palast über den
Kurznachrichtendienst Twitter verlauten: „Wir lesen Édouard Louis!“ Dieses
offene Bekenntnis der französischen Regierung überrascht angesichts der
Tatsache, dass Louis neben den ehemaligen Präsidenten Sarkozy und Holland
auch den aktuellen, Emmanuel Macron, als für das väterliche Leid
verantwortlich anzeigt.
Aber von vorn. Die Veröffentlichung seines Debütromans „Das Ende von Eddy“
führte 2014 zum Bruch mit dem Vater. In dem Roman spricht Louis über seine
Kindheit in prekären Verhältnissen in der Picardie, verabschiedet sich
performativ von seinem Geburtsnamen Eddy, der in Frankreich, ähnlich
übrigens wie die französischen Namen in Deutschland, als Chiffre für das
sogenannte Arbeitermilieu fungierte. Thematisch ist auch das Entdecken der
eigenen Homosexualität unter erschwerten Bedingungen. Homophobie und
Rassismus der nordfranzösischen Provinz, Klassenaufstieg, Milieuwechsel,
Umzug nach Paris, die soziale Scham des Arbeiterkindes als Moment des
gesellschaftlichen Ausschlusses. Als dann auch noch ein französischer
Journalist den Namen des Heimatdorfes öffentlich macht, ist dies zu viel
für die Familie, die sich ihrer Privatheit beraubt sieht und die Verbindung
zu Louis abbricht.
Fünf Jahre später verzeiht der Vater, Louis kehrt in sein Heimatdorf zurück
und findet einen gebrochenen Mann. Der Fabrikarbeiter hatte einst – da hieß
Édouard noch Eddy und lebte mit der sechsköpfigen Familie in einer winzigen
Wohnung – einen schweren Arbeitsunfall, er brach sich die Wirbelsäule und
musste mehrere Jahre untätig zu Hause bleiben. In der Folge prekarisiert
sich die Familie stärker. Louis verlässt das Dorf und schreibt sich für ein
Soziologiestudium in Paris ein. Im picardie’schen Mikrokosmos kommt das
einem gesellschaftlichen Suizid, einem Wechsel auf die andere Frontseite
gleich. Dies passiert etwa in der Zeit, in der die Regierung unter Nicolas
Sarkozy im Jahr 2009 die Sozialhilfe durch Sozialleistungen, die an eine
aktive Bemühung um einen Arbeitsplatz geknüpft sind, ersetzt. In der
Konsequenz ist Louis’ Vater trotz der lebenslangen Schmerzen im Rücken, die
der Unfall am Arbeitsplatz hinterlassen hatte, dazu gezwungen, eine Arbeit
aufzunehmen.
Währenddessen liest Louis die soziologischen Kampftexte von Didier Eribon.
Die zunächst akademische, dann auch private Begegnung mit dem französischen
Soziologen beeinflusst Louis Werk zusehends. Wie auch Eribon in seinem
Kultbuch „Die Rückkehr nach Reims“, glaubt Louis an die emanzipative Kraft
individueller Befreiungsgeschichten. Soziologenprosa könnte man dieses
Genre nennen, das Milieu-Ethnografie und Erinnerungsfragment so gekonnt
zusammenführt.
„Wer hat meinen Vater umgebracht“ ist der Versuch, den individuellen
Verfall des Vaters zu erzählen und ihn zugleich als soziologische Symptom
zu lesen. Louis inszeniert die Geschichte des väterlichen Körpers entlang
der Geschichte der französischen Sozialreformen. Um das Recht auf den
Empfang von Sozialleistungen nicht zu verlieren, beginnt der Vater
schlussendlich, dem kaputten Rücken zu Trotz, eine Tätigkeit als
Müllaufsammler, „für siebenhundert Euro im Monat, den ganzen Tag nach vorne
gebeugt, um den Müll der anderen aufzusammeln, obwohl dein Rücken zerstört
war.“ Louis klagt auf den letzten Seiten des Buchs den damaligen
Präsidenten und einen Gesundheitspolitiker persönlich an: „Nicolas Sarkozy
und Martin Hirsch haben dir das Rückgrat gebrochen.“
Dabei belässt er es nicht. Es finden sich in diesem schmalen Büchlein noch
weitere, bittere und bis an die Spitze des Möglichen personifizierte
Anklagen, die die französische Politik plötzlich ganz greifbar erscheinen
lassen. Beschuldigt wird etwa auch die sozialistische Arbeitsministerin El
Khomri, die 2016 unter dem damaligen Präsidenten Hollande das Arbeitsgesetz
reformiert, damit Kündigungen erleichtert und Betriebsvereinbarungen
gegenüber Tarifabmachungen priorisiert, sodass betriebsinterne Ausweitungen
der Arbeitszeit und verpflichtete Überstunden gesetzeskonform sind.
Louis resümiert die Folgen dieser Reformen in direkter Ansprache an seinen
Vater, der inzwischen nicht mehr nur an Wirbelsäulenproblemen, sondern auch
unter schwerer Diabetes und Atemnot leidet. Nach der Reformierung der
Gesetze kann die Firma, in der sein Vater angestellt ist, ihn dazu zwingen,
noch länger zu arbeiten, „mehr Stunden am Tag den Müll der anderen zu
sammeln“. Louis schlussfolgert: „Hollande, Valls und El Khomri haben dir
die Luft genommen.“
Nur bei den Arbeitern, den nicht-Privilegierten, haben Sozialreformen die
Macht, sich direkt auf den Körper auszuwirken, sich einzuschreiben und
krankzumachen. Deswegen ist die Geschichte des geschundenen Körpers eine
Geschichte der Politik. Als die Regierung Macron im August 2017 die
Wohnungsbeihilfe um fünf Euro kürzt, betont sie, dass eine so geringe
Differenz niemandem weh tut. Sie wissen es einfach nicht besser, findet
Louis: „Emmanuel Macron reißt dir noch den letzten Bissen Nahrung aus
deinem Mund.“
Es gibt neben dieser lauten, wortreich anklagenden Stimme noch einen
leisen, einen intimen Ton, in dem sich Louis’ faszinierender Blick für die
Bedeutung einer Geste, eines Blicks, einer Berührung offenbart. Dieser Ton
ist immer ein bisschen neben der Spur, die Sätze kommen unerwartet und sind
oft unterkomplex, fast so, als hätte der junge Schriftsteller gerade erst
sprechen gelernt, als hätte er vor der Verschriftlichung dieses Buches kein
anderes in der Hand gehabt, das die Prägnanz der eigenen Stimme schmälert.
Die sehr intimen Stellen des Textes sind oft szenisch, die Reflexivität ist
zurückgeschraubt, sodass vor allem die Körper sprechen, etwa wenn die
Erzählsituation des Buches gleich zu Anfang in ein Bild gefasst wird: „Ein
Vater und sein Sohn stehen mit der Entfernung einiger Meter nebeneinander
auf einem großen Platz, weit und leer“, sie schauen sich niemals an, nur
der Sohn spricht und dass nur der Sohn spricht, verletzt beide.
Louis hat ein politisches Programm. Er will für diesen Vater sprechen, der
nicht gelernt hat – nicht lernen konnte – das eigene Leben als Narrativ zu
begreifen, das auf eine politische oder gesellschaftliche Struktur
verweist. Louis zeigt sich als wortgewaltiger Anwalt einer Arbeiterklasse,
die sich auch von der politischen Linken verraten fühlt und die sich,
überhaupt und allgemein, als unterrepräsentiert versteht. Dieser Anwalt
vertritt einen Kläger, der verlernt hat, für die eigene Sache zu sprechen.
Der Kläger ist die vergessene Arbeiterklasse, der Kläger ist aber auch
Édouard Louis’ Vater selbst.
Natürlich ist hier viel Pathos im Spiel, natürlich mahnt gleich der
Zeigefinger des politisch Geschulten, dass es so einfach nicht ist, mit der
personifizierten Anschuldigung gewählter Funktionsträger. Auch die
politische Wende des geläuterten Vaters, der nach der Lektüre von „Eddy“
scheinbar phoenixhaft die Rassismen und Homophobie, die Louis noch im
ersten Buch so drastisch geschildert hatte, abgelegt hat, läuft etwas zu
glatt ab.
Doch was diesen Text so stark macht, ist das Ringen um die Repräsentation
eines in der Öffentlichkeit unsichtbaren Milieus. Louis hat eine Obsession.
Er will eine literarische Form finden, die Menschen wie seinen Vater in die
Mitte der Gesellschaft zurückholt. Was er erfunden hat, ist eine hybride
Form. Es ist Erinnerungsprosa, Milieu-Ethnografie und Politanklage –
kondensiert in einem schmalen Büchlein, als wollte der Autor sagen, dass
dies die Zeit und das Thema für große Romane nicht ist.
Édouard Louis: „Qui a tué mon père“. Éditions du Seuil, Paris 2018, 84
Seiten, 16,49 Euro (im Dezember auf Deutsch bei S. Fischer).
26 Jul 2018
## AUTOREN
Miryam Schellbach
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