| # taz.de -- Keine Helden, keine Feiglinge | |
| > Nicht alle Dissidenten können die Türkei verlassen. Über das Verhältnis | |
| > der im Exil und in der Heimat lebenden Andersdenkenden | |
| Bild: „Ich gehöre weder dort richtig dazu noch hier.“ | |
| Von İrfan Aktan | |
| Vor einer Bar in Berlin steht ein Mann Mitte 50, der nach dem Militärputsch | |
| 1980 aus der Türkei nach Deutschland geflüchtet ist. Beim Rauchen erzählt | |
| er, dass er zehn Jahre lang den Koffer für die Rückkehr stets parat hatte. | |
| Jeden Monat nahm er einmal seine Kleidung heraus, wusch sie und legte sie | |
| wieder hinein. „Ich wollte einfach nicht glauben, dass ich nie wieder | |
| zurückkann. Das Kofferpacken hatte eine therapeutische Funktion für mich.“ | |
| Jahrelang habe er sich dagegen gesträubt, Deutsch zu lernen. Als er nach | |
| zehn Jahren endlich wieder zurückkehren durfte, habe er begriffen, dass er | |
| im Grunde kein Land mehr habe, in das er zurückkehren könnte, erzählt er. | |
| „Ich gehöre weder dort richtig dazu noch hier.“ | |
| ## Hoffnung auf Rückkehr starb am Wahlabend | |
| Wie bereits in den Achtzigern haben in den vergangenen Jahren wieder | |
| zahlreiche Menschen aus politischen Gründen die Türkei verlassen und | |
| Zuflucht in Europa gesucht. Manche von ihnen dachten, die Präsidentschaft- | |
| und Parlamentswahlen vom 24. Juni würden ihnen das Rückflugticket bringen. | |
| In der Türkei dagegen suchen seit dem politischen Systemwechsel viele | |
| Menschen nach Wegen, das Land zu verlassen. Während also die einen wieder | |
| zurück in die Türkei wollen, versuchen wiederum andere aus der Türkei nach | |
| Deutschland zu kommen. | |
| Der Journalist Fehim Işık lebt in Deutschland und schreibt hier für die | |
| türkischsprachige Exil-Nachrichtenplattform Artı Gerçek (Wahrheit Plus). | |
| „In der Türkei habe ich härter Kritik geübt und mich im Fernsehen schärfer | |
| geäußert“, sagt Işık. Seit er in Deutschland lebt, hat er seine kritischen | |
| Äußerungen abgeschwächt. Er findet es unethisch, sich den Kolleg*innen in | |
| der Türkei gegenüber in den Vordergrund zu spielen. Wie viele andere dachte | |
| auch Işık, die AKP würde die Wahlen nicht gewinnen. Deshalb traf er | |
| Vorbereitungen, um zurückzugehen. Diese Hoffnung starb am Wahlabend. „Mir | |
| wurde klar, dass ich erst an dem Tag in mein Land zurückkann, an dem ich | |
| mich entscheide, ins Gefängnis zu gehen.“ | |
| Adile Yıldız* gehört zu den 1.128 Akademiker*innen, die den | |
| Friedensappell der „Academics for Peace“ vom 11. Januar 2016 unterzeichnet | |
| haben, mit dem Akademiker*innen zu einem Ende der Gewalt in den kurdischen | |
| Gebieten aufriefen. Ihren echten Namen will sie aus Sicherheitsgründen | |
| nicht nennen. Wie die meisten Mitunterzeichnenden wurde Yıldız per | |
| Notstandsdekret von der Universität entlassen. Heute lebt sie in Paris. | |
| Dort angekommen, erfuhr sie, dass die türkische Regierung ihren Pass | |
| annulliert hat und sie nicht in ihr Land zurückkann. In ihrer Wahrnehmung | |
| hängen die Menschen, die nie zurückgekehrt sind, in der Vergangenheit fest. | |
| Yıldız will auf jeden Fall in ihr Land zurück, denn sie will nicht im | |
| „Flüchtlingsgefühl“ gefangen sein: „Wir sind ja nicht nur Opfer. Wir si… | |
| vor allem auch Teil eines Kampfes.“ Zu sagen, die Türkei sei kein Land | |
| mehr, in dem man leben kann, sei Unrecht denen gegenüber, die sich dort für | |
| Rechte einsetzen, findet Yıldız. Gleichzeitig betont sie: „Auch jenen, die | |
| unter viel schwierigeren Umständen als wir nach Europa kamen, die jahrelang | |
| hinter Gitter müssten, wenn sie in der Türkei wären, dürfen wir kein | |
| Unrecht tun.“ | |
| Die Zahl der Festnahmen schwankt von Woche zu Woche je nach der politischen | |
| Konjunktur, der Staat setzt sie systematisch als Knüppel ein. Laut dem | |
| türkischen Innenministerium wurden allein in der Zeit vom 9. bis 16. Juli | |
| Ermittlungen gegen 266 Personen wegen Beiträgen in sozialen Medien | |
| eingeleitet. Es ist schwer in der Türkei, kritische Gedanken zu äußern. | |
| Deshalb geben sich manche umso mutiger im Protest gegen die Regierung, | |
| sobald sie im Ausland sind. Allerdings kann das für die Daheimgebliebenen | |
| zum Problem werden. | |
| Die Politikwissenschaftlerin Ayşen Uysal wurde zunächst vom Dienst | |
| suspendiert und dann per Notstandsdekret entlassen. Und da ihr Pass | |
| annulliert wurde, gehört sie zu den Tausenden Menschen, die die Türkei | |
| nicht verlassen dürfen. Sie hat viele Jahre in Paris gelebt und war häufig | |
| zu Vorträgen oder als Gastdozentin im Ausland. „Für mich sind Reisen nach | |
| Frankreich, als würde ich in die Heimat fahren. Hier gefangen zu sein macht | |
| mich wütend“, sagt sie. Eine andere Akademikerin, die ebenso nicht das Land | |
| verlassen kann, und anonym bleiben will, ist sich der Schwierigkeiten | |
| bewusst, die ihre Schicksalsgenoss*innen im Ausland haben. Dennoch ärgert | |
| sie sich über sie. „Am Wahltag haben uns viele, die inzwischen im Ausland | |
| leben, vorgeworfen, wir würden schweigen und nicht kämpfen“, sagt sie. | |
| Immer wieder sei die Aufforderung gekommen, die Urnen zu schützen. | |
| Inzwischen verstehe keiner mehr die Situation des anderen, fährt die | |
| Akademikerin fort: „Wer nicht entlassen wurde, versteht die Entlassenen | |
| nicht. Wer ins Ausland fahren kann, hat kein Verständnis für die, die es | |
| nicht können, und so weiter. Damit hat der Staat genau das erreicht, was er | |
| wollte.“ | |
| ## Buchprojekte und Rakı-Abende via Internet | |
| Das Gefühl, gefangen zu sein, verbindet die Dissident*innen in der Türkei | |
| mit denen, die ins Ausland gingen. Menschen, die aus denselben Gründen ins | |
| Visier der Regierung gerieten, verschlägt es aufgrund ihrer Lebensumstände | |
| an unterschiedliche Orte. Trotz aller Probleme kämpfen unzählige | |
| Oppositionelle weiter, um die von der Regierung gesetzten Grenzen zu | |
| überwinden. Manche schicken Geld an ihre Freund*innen im Ausland, umgekehrt | |
| versuchen Leute dort, Daheimgebliebene zu unterstützen, und sei es mit noch | |
| so geringen Mitteln. Die, die sich gefangen fühlen, bemühen sich hier wie | |
| dort, sich gegenseitig aufzubauen. Es entstehen transnationale | |
| Buchprojekte, und man trinkt zusammen bei Rakı-Abenden per Skype. | |
| Die Situation der Menschen aus der Türkei erinnert an die Geschichte eines | |
| Wiener Hotelmitarbeiters, der aus dem Iran stammt. Er war nach der | |
| islamischen Revolution vor dem Chomeini-Regime geflüchtet und kehrte viele | |
| Jahre später in seine Heimat Teheran zurück. Angesichts der Aufmerksamkeit | |
| seiner Verwandten geriet der Wiener in Verlegenheit und sagte: „In meinen | |
| Augen seid ihr alle Helden, weil ihr den Mut hattet, in diesem Land zu | |
| leben.“ Sein Onkel entgegnete dem Wiener mit einem Lächeln: „Mein | |
| Teuerster, weder sind wir Helden, noch bist du ein Feigling. Du kannst uns | |
| nicht die gesamte Verantwortung aufbürden, wir alle haben Verletzungen | |
| davongetragen. Du, weil du das Land verlassen musstest, und wir, weil wir | |
| unter der Tyrannei leben mussten.“ | |
| *Name von der Redaktion geändert | |
| Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe und Canset İçpınar | |
| 28 Jul 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Irfan Aktan | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |