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# taz.de -- Die Schere im Kopf
> Das türkische Massenblatt „Hürriyet“ wurde an eine regierungsnahe Holdi…
> verkauft. Besuch in einer entmutigten Redaktion
Bild: „Hürriyet“ gehört nun zum Mischkonzern Demirören, der vorrangig in…
Aus Istanbul Barış Altıntaş
Am Nachmittag sind die Klapptische der Kantine vor dem Gebäude der
Doğan-Medien-Gruppe im Istanbuler Stadtteil Bağcılar so voll wie nie. Die
Journalist*innen, die unter dem Dach von Doğan bei der Tageszeitung
Hürriyet arbeiten, rauchen und schlürfen mit besorgten Mienen ihren Kaffee.
Geredet wird nur über ein Thema: den Verkauf der Zeitungen und
Fernsehsender der Doğan-Gruppe an die regierungsnahe Demirören Holding, der
an diesem Tag beschlossene Sache ist. Plötzlich sind jahrelang gemunkelte
Gerüchte wahr geworden.
Mit der Übernahme durch Demirören bekam die Regierung mit der Hürriyet auch
das letzte bis dahin nicht von ihr kontrollierte Mainstreamblatt in die
Hand. Mit einer Auflage von 280.000 stand Hürriyet laut dem Medienportal
MedyaTava auf Platz drei der meistverkauften Zeitungen in der Türkei.
Demirören investiert als Mischkonzern vorrangig im Bausektor und in der
Industrie. Bereits 2011 hatte sich der Demirören-Konzern die eher liberale
Zeitung Milliyet einverleibt. Milliyet und Hürriyet gehörten ehemals zu den
auflagenstärksten Zeitungen des Landes – gelesen von progressiven
Großstädter*innen. Die Frage ist, wie viele von ihnen der Zeitung nach der
Übernahme noch die Treue halten werden.
## Der Telefonmitschnitt
Erdoğan Demirören, den Gründer und Vorstandsvorsitzenden der gleichnamigen
Holding, der im Juni starb, kennen viele von einem mitgeschnittenen
Telefonat mit Recep Tayyip Erdoğan von 2014. Auf dem Mitschnitt, der an die
Öffentlichkeit gelangte, ist zuerst zu hören, wie Demirören den damaligen
Premier fragt: „Habe ich dich traurig gemacht, Patron?“ Dann Erdoğan, der
Demirören wegen einer Meldung in der zu seinem Konzern gehörenden Milliyet
wütend herunterputzt. Am Ende schluchzt der Holdingchef ins Telefon: „Wie
bin ich da bloß hineingeraten?“ Das Telefonat zeigt, in welchem Verhältnis
die neuen Besitzer der Hürriyet zur Regierung stehen.
Bei den Hürriyet-Redakteur*innen ist die Stimmung im Konzerngebäude in
Bağcılar seit der Übernahme gedrückt. Viele von ihnen sind zwar bereit zu
reden, wollen aber nicht, dass ihre echten Namen genannt werden. Sie haben
Angst, dass der Druck auf die Mitarbeiter erhöht wird. Ihre Namen zu
ändern, war die Bedingung für die Gespräche.
Die langjährige Hürriyet-Redakteurin Ayşegül Kaya* zeigt sich entmutigt:
„Als ich vom Verkauf gehört habe, dachte ich als erstes: Hoffentlich bietet
die Doğan-Familie allen, die nicht für die neuen Besitzer arbeiten wollen,
eine Alternative an. Doch nichts dergleichen.“ Viele fühlten sich wie
Inventar, das mitsamt dem Kaufhaus verkauft wurde. In der Redaktion sei die
erste und vielleicht wichtigste Veränderung durch die Übernahme der
Einbruch der Motivation gewesen. Kaya sagt, wegen der Ungewissheit mache
sich Resignation breit.
Redakteur Serkan Taş* leidet unter dem Gefühl, es sei doch alles egal.
Jeder warte nur noch auf den Feierabend und wolle nach Hause, erzählt er.
Sie fühlten sich wie Beamten in einem Nine-to-five-Job. Taş arbeitet zwar
weiter, schaut aber während der Arbeitszeit oft Serien oder spielt am PC.
„Ich denke, es hat doch alles keinen Sinn mehr, egal, was ich tue. Wer
nicht Zeitungen wie Evrensel oder BirGün kauft, hat keine Chance mehr,
Fakten zu erfahren.“
Nach dem Verkauf von Doğan an den Demirören-Konzern gab es zahlreiche
Entlassungen bei den TV-Sendern der Gruppe, bei der Zeitung dagegen blieb
das bislang aus. Doch der Druck steigt. Die Hürriyet-Journalist*innen
konnten zwar auch vor der Übernahme nicht alles schreiben, was sie wollten.
Unter Demirören sehen sie sich aber gezwungen, noch stärker auf der Hut zu
sein. Überschriften, die Serkan Taş setzt, werden immer geändert. Auch gibt
es inhaltliche Änderungen gegen seinen Willen, bevor nachts gedruckt wird.
Taş sagt, er verlange dann, dass sein Name entfernt wird. „Aber unsere
jüngeren Kolleg*innen haben die Schere schon im Kopf. Sie denken, dieses
und jenes kommt sowieso nicht durch, und schreiben die Meldung erst gar
nicht.“
Das macht sich in der Berichterstattung der Hürriyet bemerkbar. Für die
Leser*innen, die die Medienkonzentration in der Türkei auch an der
Tonalität ihrer Zeitung bemerken, zeigt sich an einer kleinen Meldung auf
der Titelseite, dass die Art und Weise, wie man über die
Regierungsmitglieder berichtet, eine sehr wohlwollende ist.
Am 9. Juli erscheint der scheidende Ministerpräsident Binali Yıldırım in
dieser Meldung als Lebensretter und väterlicher Freund für einen jungen
Menschen, den er am Sprung von einer Brücke in Istanbul hindert. Im
Innenteil des Blattes umrahmt diese Nachricht einen größeren Text zum
politischen Systemwechsel im Land. „Der letzte Ministerpräsident rettete
den Suizidgefährdeten von der Brücke“, ist die Heldentat des
Ministerpräsidenten betitelt. Dass er mit der Amtseinführung des
Präsidenten am 9. Juli arbeitslos wird, wird nicht erwähnt.
Am 26. Juni, also zwei Tage nach den Wahlen und nicht lange nach der
Hürriyet-Übernahme, schaltete der Vorsitzende der rechtsextremen MHP,
Devlet Bahçeli eine ganzseitige Anzeige in der Hürriyet. Die MHP war mit
der AKP eine Koalition eingegangen, die der Regierungspartei eine absolute
Mehrheit sicherte, die sie allein nicht mehr zustande gebracht hatte. In
der Anzeige bezichtigte Bahçeli Dutzende namentlich genannte
Journalist*innen, auch von Hürriyet, Akademiker*innen und Chefs von
Umfrageinstituten, die MHP „beseitigen zu wollen“.
In einem Land, in dem Journalistenmorde durch rechte politische Kräfte in
den vergangenen Jahrzehnten noch sehr präsent waren, kam diese Anzeige
einer Todesdrohung gleich. Die Hürriyet-Anzeigenabteilung druckte sie
umstandslos ab. Die Hürriyet-Journalist*innen, deren Namen in der Anzeige
genannt wurden, wollen sich nicht dazu äußern.
## Der vielleicht letzte Drink
Am Abend sitzen die Doğan-Mitarbeiter*innen in der Bar im Zeitungsgebäude
in Bağcılar, an den Wänden hängen politische Karikaturen und Bilder. Die
Sorge, die nachmittags vor der Kantine herrschte, ist in die schummrige
Atmosphäre der Bar umgezogen. Draußen war es laut, hier drinnen ist es
stiller. Einige malen sich besorgt aus, was sich im Land durch die
Übernahme der Doğan-Gruppe verändern wird, wie es für sie im Berufs- und
Privatleben weitergeht. Ob sie nun ihre Jobs verlieren oder nicht, sie
fürchten, ihr Drink heute Abend könnte der letzte in dieser Bar sein.
Hier schauten viele Mitarbeiter*innen gern mit Kolleg*innen vorbei,
bevor sie sich auf den Heimweg machten, hier plauderte man angeregt. Noch
ist ungewiss, ob die Bar die stürmischen Zeiten, die Land und Zeitung
durchmachen, übersteht. Das Schicksal der Bar liegt ebenso wie das der
Zeitungsmitarbeiter*innen in den Händen der neuen Eigentümer. Wie die
Regierung und das von ihr eingesetzte Personal über Spirituosen denkt, ist
bekannt.
*Namen von Redaktion geändert
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
13 Jul 2018
## AUTOREN
Barış Altıntaş
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