Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Dem politischen Spiel mit Menschenleben ein Ende setzen
> Geflüchteten beistehen, denen der Familiennachzug verwehrt wird – die
> Initiative „Familienleben für Alle“ hilft, während sich Politik und
> Gesellschaft lieber von rechten Diskursen beeinflussen lassen
Bild: Die Aktivist*innen der Initiative Familienleben für Alle: Dorothea Linde…
Von Ann-Kathrin Liedtke und Anja Weber (Foto)
Ein fußballgroßer Würfel landet auf dem Boden eines riesigen Spielfeldes.
Er zeigt eine Eins an. „Für dich hat es nicht gereicht. Du musst auch
weiterhin getrennt von deiner Familie leben“, hört man eine feste, klare
Stimme aus einem Lautsprecher sagen. „Es ist ein böses Spiel, bei dem nur
wenige gewinnen können!“
Am Friedrich-Ebert-Platz im Berliner Regierungsviertel ist es ruhig an
diesem Morgen. Einige wenige geschäftige Menschen in Anzug und Kostüm eilen
schnellen Schrittes an einem lebensgroßen Mensch-ärgere-Dich-nicht-Feld
vorüber Richtung Bundestag. Auf dem Feld stehen die Mitglieder der
Initiative „Familienleben für Alle“ als Figuren im Spiel um das
Visumsverfahren für subsidiär geschützte Menschen.
„Familiennachzug für alle; mit Menschenrechten spielt man nicht!“ Dorothea
Lindenberg trägt einen roten Ganzkörperanzug und moderiert die heutige
Protestaktion. Sie ist die gute Seele der Initiative, die sich im Januar
2017, gründete und bundesweit vernetzt ist. Ein harter Kern von sechs
Personen organisiert regelmäßig Kundgebungen und Aktion für eine humanere
Lösung zum Familiennachzug, schreibt Pressemitteilungen, formuliert offene
Briefe an die Bundesregierung – alles auf Deutsch, Englisch und Arabisch,
alles ehrenamtlich. Über WhatsApp halten sich die Mitglieder auf dem
Laufenden, die in ganz Deutschland wohnen – ob in Bonn oder Bad Schönborn.
Die 56-Jährige scherzt mit den anderen Mitgliedern, verständigt sich mit
Händen und Füßen, wenn die Sprache ihnen einen Strich durch die Rechnung
macht. Die letzten zwei Jahre hat Lindenberg in einer Beratungsstelle
gearbeitet und Menschen betreut, die vom Familiennachzug betroffen sind.
Deutschlandweit wird die Zahl auf etwa 50.000 subsidiär geschützte Personen
geschätzt – Menschen, die Abschiebungsschutz besitzen, da ihnen Gefahren
wie die Todesstrafe oder Folter drohen. Konkrete Auskünfte konnte
Lindenberg den Betroffenen in ihrer Beratung allerdings kaum geben –
bereits seit März 2016 ist der Familiennachzug für die Personen ausgesetzt.
Eine zermürbende Situation.
„Ich hatte eine ordentliche Wut im Bauch“, sagt sie energisch. „Das
Schlimme daran war, dass man die Menschen eigentlich nur trösten konnte.“
Das bloße Zusehen machte sie unglücklich. Lindenberg wollte mehr tun, das
Problem an die Öffentlichkeit tragen. Seitdem steckt sie alle Energie in
das Projekt. Gerade jetzt, da über eine Neuregelung des Familiennachzugs
diskutiert wird: Ab August soll der Nachzug zwar wieder möglich, allerdings
auf 1.000 Menschen pro Monat beschränkt sein. Wer seine Familie nach
Deutschland holen kann, welche Kriterien erfüllt werden müssen – das alles
ist dabei nicht eindeutig formuliert. Ein Glücksspiel.
Schon jetzt leiden Betroffene unter dem ungewissen Zustand, dem langen
Warten, der Einsamkeit. Krankheiten wie Depressionen sind die Folge. Viele
Jugendliche wachsen zudem ohne ihre Eltern auf. Sie fühlen sich verraten
und sind orientierungslos. Eine weitere, möglicherweise jahrelange
Verzögerung würde all das verschlimmern – und verhindert letzten Endes auch
eine funktionierende Integration.
Auf dem Spielfeld würfelt ein Mann unterdessen endlich die ersehnte Sechs.
„Eine Sechs zu würfeln ist das Gleiche, wie einen Termin bei einer
Botschaft zu bekommen“, klärt Lindenberg auf. „Das wiederum ist die
Voraussetzung für den Antrag auf ein Visum.“ Manche warten Monate, teils
Jahre auf solch einen Termin. Der Mann streckt die Hände zum Jubel in die
Luft. Die dunklen Locken hat er mit einem Band aus dem Gesicht gebunden,
über einem schwarzen T-Shirt trägt er eine lässige Jeansweste. Man könnte
auch sagen: ein Berliner Hipster.
Ganz so stereotyp ist Mohamad Malas dann aber doch nicht. Bereits drei
Jahre lang wartet er darauf, seine Frau nach Deutschland holen zu können.
Kontakt haben sie seit seiner Flucht im Jahr 2015 nur per Videochat, doch
ein Ersatz ist das nicht. „Ich habe manchmal das Gefühl, dass wir uns kaum
noch kennen“, erzählt Malas. In den dunklen Gläsern seiner Sonnenbrille
spiegelt sich das Spielfeld. Seine Frau kann nicht schwimmen, eine
gemeinsame Flucht daher unmöglich. Sie lebt bis heute mit ihren Eltern in
einem Ort bei Damaskus. Dabei wird die Situation in der Umgebung immer
unsicherer. Nicht nur Bomben bedrohen das Leben in Syrien, erzählt der
33-Jährige. Frauen würden auf der Straße sexuell belästigt, Männern drohe
das Militär. Als auch Malas eingezogen werden sollte, stand der Plan zur
Flucht endgültig fest. Mit einem Boot setzte er von der Türkei nach
Griechenland über, von dort aus ging es nach Deutschland. „Wir werden
gemeinsam kämpfen, bis alle unsere Familien hier sind“, sagt Malas über die
Initiative, bei der er seit der Gründung dabei ist.
## Geflüchtete fühlen sich vom Staat bestraft
Die Mitglieder von „Familienleben für Alle“ wollen bis zum Beschluss über
das neue Gesetz beinahe täglich demonstrieren und an die Öffentlichkeit
gehen – all das neben ihrem Berufsalltag. Wie auch Sebastian Muy, der heute
in Team Blau spielt. Muy ist Sozialarbeiter und arbeitet mit Geflüchteten.
In seinen Beratungen ist er immer mit Angehörigen konfrontiert, die mit
Aussetzung des Familiennachzugs zunehmend verzweifelter wurden. Die Debatte
um das neue Familiennachzugsgesetz, zeige, wie sehr sich der politische
Diskurs nach rechts verschoben hat, erzählt Muy. „50.000 oder 60.000
Menschen doch niemandem weh. Eine kleine Zahl wenn man bedenkt, wie viele
Menschen in Deutschland leben“, meint Muy. Auf einer Protestaktion lernte
er die anderen Mitglieder der Initiative kennen. Nun nutzt er seine freie
Zeit, um für mehr Rechte für geflüchtete Menschen zu kämpfen. Um halb 10
muss er sich daher vom Spiel verabschieden und zur Arbeit gehen.
Eine Woche später ist es dann soweit: Am 15. Juni beschließt der Bundestag
das umstrittene Gesetz zum Familiennachzug, um es zum 1. August in Kraft
treten zu lassen. „Wir sind wütend und enttäuscht“, sagt Malas. „Für d…
meisten von uns heißt das: weiter warten. Und niemand weiß, wie lange. Wie
sollen wir so unsere Zukunft planen? Ich habe das Gefühl, dass wir dafür
bestraft werden, hier zu sein.“ Auch Lindenberg hatte sich ein anderes
Ergebnis erhofft: „Ich habe noch bis Mittwoch gehofft, es würde sich
wenigstens in Teilen noch etwas ändern.“Aufgeben wollen die Mitglieder der
Initiative „Familienleben für Alle“ allerdings nicht, im Gegenteil. „Wir
werden weiter gemeinsam auf der Straße protestieren, bis das Grund- und
Menschenrecht auf Familie endlich für alle gilt“, sagt Lindenberg. Sie
wollen sich neu aufstellen, mit anderen Organisation zusammenarbeiten, um
noch mehr Menschen zu erreichen und letztlich auch Erfolg zu haben.
Mit dem neuen Gesetz wird die Zahl der Nachziehenden nun auf 1.000 Personen
pro Monat beschränkt. Die Wartezeit verzögert sich dadurch für viele
Geflüchtete um Jahre. Auch für viele Kinder in den Heimatländern ist das
ein Problem: mit voranschreitendem Alter schwindet die Chance, überhaupt
für den Familiennachzug berücksichtigt zu werden. Die Kriterien sind dabei
schwammig. Ein Nachzug soll aus „humanitären Gründen“ möglich sein.
Beispielsweise, wenn ein minderjähriges Kind betroffen ist, Leib, Leben
oder Freiheit der Angehörigen ernsthaft gefährdet sind, jemand schwer
erkrankt oder pflegebedürftig ist oder die Herstellung der familiären
Lebensgemeinschaft seit langer Zeit nicht möglich ist. Doch sind drei Jahre
Trennung lang genug?
Für Malas zumindest fühlen sich die Jahre wie eine Ewigkeit an. In der Zeit
seit seiner Ankunft hat Malas Deutsch gelernt, neue Freunde gefunden, sich
integriert. Derzeit macht er eine Umschulung zum Mechatroniker. „In
Damaskus war ich Imker“, berichtet er nicht ohne Stolz. „Aber hier
interessiert sich leider keiner für die Bienen.“ Ob das
Bundesverwaltungsamt seine Integrationsleistungen als ausreichend bewertet
– unklar. Für ihn und viele andere Familien bleibt der Familiennachzug wohl
weiterhin wie das Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel: reine Glückssache.
Dorothea Lindenberg und ihren Mitstreiter*innen steht noch viel Arbeit
bevor.
23 Jun 2018
## AUTOREN
Ann-Kathrin Liedtke
Anja Weber
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.