# taz.de -- Im Land der fluiden Sprache | |
> Kleine Sprachen verschwinden? Jedenfalls nicht in Leeuwarden, der | |
> Europäischen Kulturhauptstadt 2018. Dort erlebt das Friesische geradezu | |
> einen Boom | |
Bild: Friesisches Gedicht auf der „Poesieroute“ | |
VonKatharina Borchardt | |
Ich weiß noch, wie ich das Wort Sinneljocht entdeckte“, erinnert sich der | |
Dichter Arjan Hut. „Das war der Name einer Kita. Sie hatten die Buchstaben | |
direkt auf die Scheibe geklebt.“ Sinneljocht ist das friesische Wort für | |
Sonnenlicht. „Das berührte mich sehr. Ich studierte damals Englisch in | |
Groningen und nahm dann das Fach Friesisch noch hinzu.“ Natürlich konnte | |
Hut bereits Friesisch sprechen, schließlich wuchs der heute 42-Jährige in | |
der Nähe von Leeuwarden auf, „aber wir schrieben die Sprache nicht. Wenn | |
ich meiner Mutter als Kind einen Brief schrieb, dann tat ich das auf | |
Niederländisch. Das klang dann halt immer etwas steif und offiziell.“ | |
In der Grundschule musste Hut Niederländisch sprechen, wobei dies jedoch | |
von Schule zu Schule variierte und von den sprachlichen Vorlieben der | |
jeweiligen Lehrer abhing. „Heute ist das anders“, erklärt sein Verleger | |
Ernst Bruinsma von der Afûk. Die Afûk entwirft friesische Lehrmaterialien | |
und verlegt Literatur aus der Region. Der Verlag sitzt im historischen | |
Zentrum von Leeuwarden, das von einem alten Stadtgraben umgeben wird, heute | |
eine gepflegte Parkanlage. In unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich | |
auch das Literaturarchiv Tresoar und die Fryske Akademy, eine | |
Forschungsstelle für friesische Sprache und Geschichte. Ein kultureller | |
Hotspot für die ganze Provinz. „Heute ist Friesisch nicht mehr optional, | |
sondern Unterrichtsfach an allen Grundschulen und auch noch im ersten Jahr | |
an den weiterführenden Schulen“, betont Verleger Bruinsma. Die | |
Unterrichtsmaterialien für Kinder sowie für Erwachsene findet man im | |
geräumigen Afûk-Buchladen, in dem auch friesische Romane, Gedichtbände, | |
Sachbücher sowie CDs angeboten werden. Natürlich verkaufen andere | |
Buchhandlungen ebenfalls friesische Titel – der Afûk-Buchladen aber ist das | |
literarische Schlaraffenland der Region. | |
Hier stehen auch die Lyrikbände von Arjan Hut und von Tsead Bruinja. | |
Bruinja ist einer der wenigen friesischen Autoren, deren Texte bislang ins | |
Deutsche übersetzt wurden. „Wir sprachen zu Hause natürlich friesisch“, | |
erzählt der 43-Jährige, der in Leeuwarden zur Schule ging. „Wenn jemand | |
anderes hinzukam, der nur Niederländisch konnte, wechselten wir mühelos die | |
Sprache, damit alle mitreden konnten. Aber die Vertraulichkeit war dann | |
weg.“ Schon als Student wollte Bruinja schreiben, wusste aber nicht, in | |
welcher Sprache: „Ans Friesische dachte ich gar nicht erst, und zum | |
Niederländischen hatte ich keinen emotionalen Bezug. Deshalb meinte ich, | |
dass ich dann wohl auf Englisch schreiben müsse.“ Er studierte – wie Hut �… | |
Englisch im nahe gelegenen Groningen. Dorthin zieht es viele junge Friesen, | |
weil die eigene Provinz keine Universität besitzt. | |
„Damals nannte ich mich noch Tjeerd“, erinnert sich Bruinja. „Das ist die | |
niederländische Version von „Tsead“. Im Rückblick sind das für mich fast | |
zwei verschiedene Personen.“ Erst durch ein Literaturfestival entdeckte er | |
das Friesische als Literatursprache, und bald verwendete er auch wieder | |
seinen Geburtsnamen. „Ich las zuerst die Gedichte von Albertina Soepboer. | |
Anfangs verstand ich nichts, weil ich an das Schriftbild gar nicht gewöhnt | |
war. Es dauerte etwas, aber dann begriff ich auf einen Schlag alles, was | |
ich las.“ Auch der Dichter Arjan Hut erlebte eine Art Lektüre-Initiation: | |
„Im Studium sah ich zu ersten Mal längere friesische Texte. Das war ein | |
wunderliches Gefühl. Es war, als würde ich mich an einen alten Traum | |
erinnern und darin herumlaufen.“ Hut fing an, ein paar eigene Wörter oder | |
kurze Sätze zu notieren. Daraus wurden später Liedtexte und dann Gedichte. | |
Inzwischen kann man Gedichte von Tsead Bruinja und von Arjan Hut auf der | |
Poesieroute in Leeuwarden entdecken: Je ein Text von beiden wurde in | |
Stein gemeißelt und ins Pflaster der historischen Innenstadt eingelassen, | |
die mit ihren Backsteingebäuden, den vielen Brücken und Grachten sehr | |
pittoresk wirkt. 50 Gedichte von verschiedenen Autoren umfasst diese | |
Poesieroute bereits, und sie führt durch die ganze Stadt. | |
Heutzutage ist geschriebenes Friesisch viel präsenter als früher, sei es | |
auf den Straßen von Leeuwarden, in Lehrmaterialien, in Zeitschriften und | |
Büchern oder im Internet. „Die sozialen Medien sind Gold fürs | |
Friesische“, sagt Verleger Ernst Bruinsma. „So viel Friesisch wie dort | |
wurde schon lange nicht mehr geschrieben.“ Dass es viele User auf Facebook | |
oder Twitter mit der Rechtschreibung nicht so genau nehmen, stört ihn | |
nicht: „Da wird vieles phonetisch geschrieben. Aber man merkt deutlich, | |
dass die Leute dabei viel lernen und dass sich ihre Orthografie mit den | |
Jahren verbessert.“ Zumal das Friesische trotz festgelegter Rechtschreibung | |
eine fluide Sprache ist. Schließlich hat jedes Dorf seine eigenen | |
Aussprachebesonderheiten. Da liegen orthografische Varianzen durchaus nahe. | |
Zudem fließen auch ständig niederländische Worte ein. Weil die beiden | |
Sprachen eng verwandt sind, lassen sie sich leicht miteinander kombinieren. | |
Manche Friesen sprechen im Alltag einen friesisch-niederländischen Mix in | |
je eigenem Mischverhältnis. | |
Das reinste Friesisch verwendet man wohl an den Kulturinstituten der | |
Region, das so genannte Standardfriesisch. „Bücherfriesisch“ nennt es Ernst | |
Bruinsma, der es natürlich auch beherrscht. „Standardfriesisch, das hat | |
etwas von einer Priestersprache“, grinst Goffe Jensma, Frisist an der | |
Universität Groningen. In der Provinz Friesland wohnen rund 650.000 | |
Menschen, „aber nur etwa 2.000 beherrschen das, was man Standardfriesisch | |
nennt. Alle anderen durchsetzen ihr Friesisch großzügig mit | |
niederländischen Wörtern und passen auch die Wortfolge im Satz oft den | |
Regeln des Niederländischen an.“ Ist das schlimm? „Nicht unbedingt“, fin… | |
Jensma, „denn Sprachen verändern sich nun einmal ständig, und kleine | |
Sprachen haben immer schon Einflüsse aus größeren Sprachen aufgenommen.“ | |
Auf einem Gebiet aber erweist sich das Friesische als ausgesprochen | |
widerständig, betont der Frisist: „Es verändert sich nicht im Klang. Seine | |
Aussprache nähert sich dem Niederländischen nicht an. Darin behauptet sich | |
auch ein Stück unserer Identität.“ Einige Vokale klingen heller als im | |
kehligen Niederländischen, ansonsten wirkt das Friesische herrlich | |
kantig-konsonantig, und auch das R wird entschieden gerollt. | |
Das R rollen kann auch Bert Looper, Leiter des Literaturarchivs Tresoar, | |
wenn er das Gedicht „In Memoriam“ von Douwe Tamminga vorliest, das ihm | |
schon in jungen Jahren den Atem geraubt hat. In der stillen Bibliothek | |
klingt das besonders beeindruckend. „40.000 bis 50.000 friesische Bücher | |
haben wir hier“, erklärt er anschließend stolz und weist auf die Regale in | |
den hell und offen gestalteten Räumen, „das sind alle Bücher, die jemals | |
auf Friesisch erschienen sind.“ Auch verschiedene Literaturzeitschriften | |
gehören dazu sowie ein umfangreiches digitales Corpus friesischer | |
Internettexte und Autorenblogs. Texte, die die meisten Nichtfriesen leider | |
nicht verstehen können. | |
Deshalb ist man in Leeuwarden sehr erfreut über das knapp 400 Seiten | |
umfassende Kompendium „And Green Cheese“ (Francis Boutle Publishers, | |
London), das gerade jetzt erscheint und anhand von friesisch-englischen | |
Textauszügen einen vertieften Einblick in die reiche Geschichte und den | |
ganz eigenen Klang friesischer Gesetzestexte, Briefe, Lieder, Gedichte und | |
Erzählungen bietet. Die Originaltexte liegen teils natürlich im Tresoar: | |
„Wir heißen so“, sagt Bert Looper, „weil wir ein Tresor sind, die | |
Schatzkiste von Friesland.“ | |
30 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Katharina Borchardt | |
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