# taz.de -- Wahlen in der Türkei: „Wollt ihr zurück zur alten Türkei?“ | |
> Auch die AKP kämpft um jede Stimme. In der südtürkischen Hafenstadt | |
> Mersin wirbt Staatspräsident Erdogan mit einem Luxuskrankenhaus. | |
Bild: Vor dem städtischen Krankenhaus Mersin im Norden der südtürkischen Haf… | |
Es sind 35 Grad in Mersin, einer Hafenstadt am Mittelmeer bei Antalya. Hier | |
trifft Staatspräsident Erdoğan mit sieben Hubschraubern und ganzen 108 | |
Minuten Verspätung auf einer Wahlkampfkundgebung Anfang Juni ein. Genervt | |
von der Hitze und vom Warten sind viele Leute bereits gegangen. | |
Nun werden der Menge auf dem Platz auf einem Riesenmonitor Aufnahmen vom | |
städtischen Krankenhaus in Mersin gezeigt und dazu Bilder von türkischen | |
Kliniken vor 20 Jahren. „Und, seid ihr zufrieden?“, fragt Erdoğan die | |
Leute. „Ja!“, brüllt die Menge. | |
Das städtische Krankenhaus Mersin im Norden der Stadt liegt auf einem | |
Hügel, von hier schaut man auf die Menschenmenge herunter. Wer den Komplex | |
auf 370.000 Quadratmetern betritt, findet sich in einem funkelnden | |
Prachtbau wieder. Die Anlage ist derart luxuriös, dass manche aus reiner | |
Neugier in die Klinik kommen. Zehntausende Menschen gehen hier täglich ein | |
und aus, 3,5 Millionen sind es in einem Jahr. Im Vergleich dazu hat die | |
Stadt nur 1,7 Millionen Einwohner*innen. | |
## In Mersin kämpft die AKP um jede Stimme | |
Patient*innen müssen auf der riesigen Anlage mit Golfwagen von einer | |
Abteilung in die andere gefahren werden. Damit sich nicht mehr so viele | |
verirren, sind Hostessen angestellt, deren einzige Aufgabe darin besteht, | |
für Orientierung zu sorgen. Die WHO beziffert die Bettenkapazität für ein | |
effektiv funktionierendes Krankenhaus auf 200 bis 600. Die Klinik in Mersin | |
verfügt über 1.300 Betten. | |
Für die AKP ist die Klinik ein Wahlkampfinstrument, denn in Mersin zählt | |
jede Stimme. In den vergangenen 16 Jahren gelang es der Regierungspartei | |
hier nur zweimal stärkste Partei zu werden, und das jeweils mit nur einem | |
knappen Vorsprung. Die anderen drei Parlamentswahlen entschied zweimal die | |
kemalistische CHP und einmal die rechtsextreme MHP für sich. | |
Sowohl beim Referendum 2017, als auch bei der Präsidentschaftswahl 2014 | |
stimmten zwei Drittel der Wähler*innen gegen die Einführung des | |
Präsidialsystems, also gegen Erdoğan. Die AKP lässt hier deshalb keine | |
Gelegenheit aus, Wahlkampf zu machen. | |
Bereits die Eröffnung des Krankenhauses im vergangenen Jahr wurde als | |
Wahlkampfveranstaltung im Vorfeld des Referendums instrumentalisiert. | |
Erdoğan versprach ökonomischen Aufschwung durch den Klinikumsatz. Auch an | |
diesem Tag verspricht er Investitionen und thematisiert das städtische | |
Krankenhaus, das inzwischen für Kontroversen sorgt. | |
## Ein Krankenhaus wie eine Shopping Mall | |
Die Ärztekammer von Mersin kritisiert, dass das Gesundheitsministerium das | |
Krankenhausgebäude pachtet. Rechnet man die Einnahmen gegen die Ausgaben | |
wie Kosten für die Pacht und Betriebserhaltungskosten, ergebe sich ein | |
Verlust in Höhe von 10 Millionen türkischen Lira, umgerechnet sind das etwa | |
2,2 Millionen Euro. Um die Kosten wieder einzuholen, müssen möglichst viele | |
Menschen behandelt werden. Die wichtigste Einnahmequelle für die Klinik | |
sind medizinische Analysen. | |
Der Gesundheitsbehörde zufolge wurden vergangenes Jahr 3,5 Millionen | |
Patient*innen behandelt und 7 Millionen Analysen durchgeführt. | |
Patient*innen zahlen erst für die Untersuchung, dann für die Analysen und | |
schließlich auch noch anteilig für die Medikamente. Je mehr gemacht wird, | |
umso mehr verdient der Privatsektor, der Partner der Klinik ist. | |
Das sorgt für Unmut in der Bevölkerung, so auch bei Fulya Kurt. Die | |
Geschäftsfrau glaubt, das städtische Krankenhaus bezwecke lediglich, | |
Rendite mit Menschen und ihrer Gesundheit zu machen: „Das wird ja nicht wie | |
eine Gesundheitseinrichtung betrieben, sondern wie eine Shopping Mall, das | |
stößt den Leuten auf.“ | |
## „Götzen haben wir keine“ | |
Anderer Meinung ist Aziz Akbayrak. „Als ich die Klinik sah, sagte ich, Gott | |
lohne es denen, die sie erbaut haben. Da merkt man doch, dass ihnen die | |
Menschen wichtig sind. Als Kind wollte ich nie ins Krankenhaus, allein der | |
Geruch drehte mir den Magen um. Dieses Krankenhaus aber ist blitzsauber. | |
Wer ein Gewissen hat, kritisiert es nicht.“, so der 36-Jährige | |
Ladenbesitzer. | |
Trotz schlecht laufender Geschäfte setzt er Vertrauen in die Regierung und | |
ärgert sich über Kritik an der AKP. „Wir glauben an Erdoğan!“, so Akbayr… | |
Den türkischen Staatspräsidenten unterstützt er vor allem deshalb, weil er | |
ein gläubiger Mann ist: „Bei jeder Wahl habe ich Erdoğan meine Stimme | |
gegeben. Weil er fromm ist. Aber bedingungslos unterstütze ich ihn nicht. | |
Götzen haben wir keine.“ | |
Das Krankenhaus ist nur für die AKP ein Wahlkampfthema, die Opposition | |
interessiert sich nicht sonderlich dafür. Dennoch wiederholt Erdoğan auf | |
der Kundgebung: „Wir haben es gebaut, sie wollen es schließen! Wollt ihr | |
zurück zur alten Türkei?“ | |
Am Rande der Kundgebung sagt ein junger Anhänger der AKP mit Blick auf das | |
rund 250 Meter entfernte Podium, auf dem der Staatspräsident spricht: | |
„Ehrlich, wenn es eine echte Opposition geben würde, könnte ich mir | |
vorstellen, sie zu wählen.“ Als Erdoğan die Menge fragt: „Seid ihr mit dem | |
städtischen Krankenhaus zufrieden?“, applaudiert aber auch er frenetisch | |
und brüllt: „Ja!“ | |
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe | |
15 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Abidin Yağmur | |
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