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# taz.de -- Ausgehen und rumstehen von Seyda Kurt: Widerspenstige Muskelbinden …
Seit ein paar Nächten träume ich wirr und schlafe schlecht. So kann das
nicht weitergehen, denke ich am Freitagabend. Vielleicht muss ich meine
Faszien wieder ausrollen. Dazu lege ich mich auf eine Hartschaumrolle und
bewege mich, mal auf dem Rücken, mal auf der Seite, hin und her, um
widerspenstige Muskelbinden zu entknoten − hoffend, dass es auch
Auswirkungen auf widerspenstige neuronale Netze hat. Während ich mich
ausrolle, denke ich daran, wie meine Mutter Lahmacun zubereitete. Sie warf
dicke Teigklöpse auf den Küchentisch und bearbeitete sie mit einem
Nudelholz, bis sie dünn und oval waren. Lahmacun gab es oft beim
Zuckerfest, das ist heute, aber es gibt kein Lahmacun. Nur mich und ein
Glas Rotwein. Geld gibt es schon lange keins mehr. Früher habe ich pro
Festtag bis zu 100 Euro Cash gemacht. Dazu küsste ich so vielen älteren
Menschen wie möglich die Hand, legte sie auf meine Stirn und sagte: „Frohes
Fest“. Zack, der nächste Zehner in der Tasche.
Samstag, wieder schlecht geschlafen. Abends bin ich mit V. in der Kapelle
auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof verabredet, hier wird Lichtkunst von
James Turrell präsentiert. V. verspätet sich, also schlendere ich zum
ersten Mal allein über einen Friedhof, lese Namen von toten Menschen, toten
Töchtern, toten Söhnen. Man sagt, ein Spaziergang über eine Ruhestätte
spende Ruhe, doch bis V. kommt, bin ich fertig mit den Nerven. Ich frage
mich zwischen den Dahingeschiedenen, ob ich wieder an Gott glauben sollte,
es ist ja auch Zuckerfest.
V. hat Freunde dabei, alle mit Glatze, manche von ihnen haben eindeutig
schlechter geschlafen als ich oder einfach gar nicht seit Nächten. Die
Lichtkunst ist unspektakulär, S. sagt, er wolle lieber rauchen. Ich
erzähle, dass ich eben bei den Gräbern von Helene Weigel-Brecht und Bertolt
Brecht zwei Zigaretten entdeckt habe, die jemand dort als Totengabe
hinterlassen hat. D. spielt Songs von Drake auf seinem Handy, während wir
dorthin marschieren, es werden ein paar Selfies geschossen, und wir rauchen
die fremden Zigaretten. Dann fahren wir nach Kreuzberg in die Pizzeria
Prisma Pavillion. Das Essen schmeckt gut und der Weißwein auch. Weil ich
immer noch an die Gräber der 25 unbekannten Weltkriegsopfer denken muss,
rauche ich eine Zigarette nach der anderen. Schließlich landen wir im
Würgeengel auf der Dresdener Straße, der Name der Bar ist Programm: Eine
Stunde später hänge ich würgend und wenig engelhaft über der Kloschüssel.
## Gequalmt wie ein Schlot
Am Morgen danach wache ich viel zu früh auf, verkatert. Zu viel getrunken
habe ich nicht, aber zu viel geraucht. Da krampft sich mein Magen zusammen,
keine Faszienrolle könnte das jetzt hinbiegen, ein unerträgliches Gefühl
der Schuld übermannt mich: Während ich die Nacht gequalmt habe wie ein
Schlot, konnten Helene und Bert nicht rauchen, weil wir ihre Zigaretten
gestohlen haben. Ich springe aus dem Bett, schlüpfe in Klamotten und ein
Paar ungleiche Socken, nehme den nächsten Bus. Mir ist schwindelig, doch am
Friedhof empfängt mich an diesem Mittag eine milde Wärme. Ich kehre zurück
zu Helene und Bert wie ein reumütiges Kind, Tränen kullern über mein
Gesicht, als ich zwei Zigaretten auf die Gräber lege. Ich wiederum lege
mich auf den Steinrand von Berts Grab, die rechte Hand auf seiner Erde
ruhend. Ich stelle mir vor, dass Helene und Bert meine Eltern sind. Ich
küsse ihre Hände beim Zuckerfest. Wie haarig wären diese Hände, wie viel
Geld hätten sie gegeben? Ich schließe die Augen, hier werde ich schlafen,
ruhig und friedvoll, vielleicht bis übermorgen.
19 Jun 2018
## AUTOREN
Seyda Kurt
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