| # taz.de -- Universitäten: Wahlkampf in den Semesterferien | |
| > „Eine unausgesprochene Regel“ sei es, an den Istanbuler Universitäten | |
| > nicht über Politik zu reden. Ein Versuch, es trotzdem zu tun. | |
| Bild: Student*innen auf dem Campus der Boğaziçi Universität in Istanbul | |
| Der Weg zur renommierten Boğaziçi-Universität führt an Plakaten am | |
| Straßenrand vorbei, die für den Staatsdienst werben: Ein stolzer Soldat, | |
| ein zufriedener Wachmann und eine glückliche Astronautin zeigen, was für | |
| Möglichkeiten die Zukunft bringt. Eine Zukunft, die vor allem davon | |
| abhängt, was bei den vorgezogenen Wahlen am 24. Juni passiert. Die | |
| Student*innen an der Boğaziçi sind unterschiedlicher politischer Meinung, | |
| aber einig darin, dass sich etwas ändern muss – nur zitieren lassen möchten | |
| sich nur wenige. | |
| In Istanbul gibt es insgesamt acht staatliche und 29 private Universitäten. | |
| Von der Anzahl der Studierenden übertreffen die meisten staatlichen | |
| Einrichtungen deutsche Unis bei weitem. Die Istanbul-Universität | |
| beispielsweise zählt über 100.000 Studenten. Zum Vergleich: nur knapp | |
| 33.000 besuchen die Humboldt-Universität in Berlin. | |
| Die Boğaziçi-Universität gilt als linksliberal, der Schwerpunkt liegt dort | |
| auf Politikwissenschaften. Auch die private Bilgi-Universität, die sich in | |
| amerikanischem Besitz befindet, hat einen linksliberalen Ruf. Trotzdem gibt | |
| es hier viele konservative Studierende. In den letzten Jahren änderte sich | |
| die Situation. Konzerte und Alkohol auf dem Campus wurden verboten, | |
| wissenschaftliches Arbeiten ist nur noch unter der strengen Aufsicht des | |
| Bildungsministeriums möglich. Letzteres trifft übrigens für alle | |
| Universitäten zu. | |
| Politische Haltung nicht verstecken | |
| Die Sicherheitskontrollen am Eingang zur Boğaziçi-Universität sind nicht | |
| mehr so streng, wie vor wenigen Wochen. Im März hatten Polizeikräfte | |
| mehrere Studierende nach Protesten festgenommen, weil diese gegen eine | |
| konservativ-religiöse Studierendengruppe protestiert hatten. Letztere | |
| hatten zum Einmarsch im nordsyrischen Afrin Süßigkeiten verteilten. Die | |
| Polizei durchsuchte am folgenden Tag die Schlafräume der linken Studierende | |
| und leitete Anklage gegen einige von ihnen ein. | |
| Jetzt scheint das Universitätsgelände wie leergefegt. Kurz vor Semesterende | |
| kommen die meisten nur noch zu den Prüfungen an die Universität. Elif | |
| Doğan* hat einen Termin mit dem Dekan. Sie tritt offen mit ihrer | |
| konservativ-religiösen Haltung auf. Die 23-jährige Studentin erzählt, dass | |
| sie sich mit ihren Freunden zusammengeschlossen hat. Bereits mehrere Male | |
| habe sie Recep Tayyip Erdoğan schon die Hand geschüttelt; stolz zeigt sie | |
| die Fotos. „Ich folge seinen Veranstaltungen“ erzählt sie und betont, dass | |
| sie ihre politische Haltung nicht verstecken wolle. | |
| Sie ist Unterstützerin der Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit | |
| und Aufschwung). Das zu betonen ist ihr besonders wichtig. Es gebe Dinge, | |
| die die Regierung noch verbessern könnte, vor allem im wirtschaftlichen | |
| Bereich. Gegen den Verfalls des Liras zum Beispiel müsste dringend etwas | |
| gemacht werden, findet die Wirtschaftsstudentin. Am wichtigsten sei für sie | |
| aber, dass sie als Kopftuchträgerin die Universität besuchen könne. | |
| Kopftücher waren vor wenigen Jahren noch verboten | |
| In der Türkei wurde das Kopftuch im öffentlichen Raum bereits 1937 in | |
| nicht-staatlichen Einrichtungen verboten. Dieses Verbot wurde nach dem | |
| Putsch 1980 auch auf staatliche Institutionen wie Universitäten übertragen. | |
| Da Laizismus die Regel war, galt es als reaktionär an Universitäten mit | |
| Kopftuch aufzutauchen. Der Wunsch zu studieren und ein Kopftuch zu tragen, | |
| schloss sich aber nicht aus. Bereits seit den 1970'er Jahren setzten sich | |
| religiöse Kräfte für eine Abschaffung des Verbots ein. | |
| Erst im Jahr 2010 wurde das Verbot für Studentinnen faktisch aufgehoben, | |
| acht Jahre nach der Regierungsübernahme durch die AKP. 2013 wurde das | |
| Kopftuch schließlich in allen öffentlichen Ämtern erlaubt. Für die AKP ist | |
| die Aufhebung des Kopftuchverbots in öffentlichen Ämtern und Universitäten | |
| eine Errungenschaft, die viel zu dem Erfolg der Partei beigetragen hatte. | |
| Die Befreiung von Kopftuchträgerinnen aus jahrelanger Repression ist ihr | |
| Hauptargument. | |
| „Es gibt keinen Zweifel, dass die Wahlen in der Türkei nicht mehr frei und | |
| fair sind“, lautet Kadir Öğüts* Standpunkt. Die Tatsache, dass Selahattin | |
| Demirtaş, Präsidentschaftskandidat der prokurdischen HDP (Partei der | |
| Völker), im Gefängnis sitzt und von dort aus Wahlkampf führen muss, mache | |
| das deutlich. „Obwohl die HDP mehr als fünf Millionen Stimmen bei den | |
| letzten Parlamentswahlen hatte, wurden der Parteivorsitzende und seine | |
| Mitstreiter unrechtmäßig festgenommen“, sagt der Jurastudent. | |
| ## Ab ins Ausland | |
| Nach seinem Bachelorabschluss an der Istanbul-Universität studiert Öğüt nun | |
| in den USA, wo er seinen Master abschließen will. Mit dieser Entscheidung | |
| steht er nicht alleine da: immer mehr junge Menschen würden es vorziehen | |
| zum Studieren oder Arbeiten ins Ausland zu gehen. „Die Arbeitslosenquote | |
| liegt bei mehr als 10 Prozent und die türkische Lira verliert jeden Tag an | |
| Wert. Junge Menschen glauben nicht daran, dass das hiesige politische | |
| System die Probleme lösen kann.“, sagt er. „Sie sind besorgt und | |
| verängstigt, wenn es um ihre Zukunft geht, deswegen versuchen Studenten das | |
| Land zu verlassen.“ | |
| Politische Veranstaltungen im Vorfeld zu den kommenden Wahlen sind an den | |
| Universitäten dieser beiden Studierenden nicht geplant. Auch an der | |
| privaten Bilgi-Universität gibt es keine Wahlveranstaltungen. Abgesehen | |
| davon, dass vielen vermutlich der organisatorische Aufwand zu groß ist, | |
| fällt der Wahlkampf in die Semesterferien und in den Fastenmonat Ramadan. | |
| Bis zum Semesterende tönt trotzdem jeden Tag von sieben Uhr morgens bis 22 | |
| Uhr hippe Elektromusik aus den Lautsprechern auf dem Campus der | |
| Bilgi-Universität. Die Studenten sitzen im Grünen auf den Bänken und nippen | |
| an ihrem Eiskaffee. Nach ihrer politischen Meinung gefragt, reagieren sie | |
| zurückhaltend. | |
| Esin Ulu* ist Englischlehrerin an der Bilgi-Universität im Fachbereich | |
| Wirtschaft, in ihren Seminaren wird generell nicht über Politik gesprochen, | |
| auch nicht so kurz vor den Wahlen. Das liegt zum einen daran, dass sie | |
| niemandem eine Meinung indoktrinieren möchte, wie sie sagt, aber zum | |
| anderen habe sie auch das Gefühl, dass „es eine unausgesprochene Regel | |
| gibt, nicht über Politik zu reden“. Besonders im Bereich Bildung sieht sie | |
| diese Reglementierung: „Wir können seit Ende April nicht auf Wikipedia | |
| zugreifen und lernen nichts über Darwins Theorien in der Schule.“ | |
| ## „Das Ergebnis ist doch schon klar“ | |
| Dabei gilt auch die amerikanische Bilgi-Universität als liberale | |
| Einrichtung. Durch Kooperationsprogramme landen besonders viele | |
| Austauschstudierende aus Deutschland hier. Ala Tunca* lebt jetzt schon seit | |
| knapp neun Monaten in Istanbul. Ihre Familie ist, wie viele andere | |
| türkische Bürger auch, vor mehreren Jahrzehnten schon nach Deutschland | |
| gekommen. Jetzt ist sie zeitweise zurückgekehrt und studiert für zwei | |
| Semester Europawissenschaften in Istanbul. „Es ist verrückt, wie sich die | |
| Türkei und deutsch-türkische Familien in Pro-Erdoğan und Anti-Erdoğan | |
| teilen. Ich habe auch Beispiele in meiner Familie“, berichtet sie. | |
| Die 27-Jährige will ihre doppelte Staatsbürgerschaft nutzen, um auch bei | |
| den Wahlen abzustimmen. Allerdings denkt sie, dass die Wahlen schon allein | |
| deswegen unfair seien, weil die Regierung bereits im Vorfeld so viel | |
| Kontrolle ausübe: „Die Menschen sprechen über Wahlbetrug in Bezug auf die | |
| Stimmzettel, so wie beim Referendum, aber wenn man 95 Prozent der Medien | |
| kontrolliert, lässt sich sowieso nicht von freien Wahlen sprechen. Das | |
| Ergebnis ist doch jetzt schon klar“, sagt sie. | |
| Viele Studierende wirken unsicher in Bezug auf die kommenden Wochen. Die | |
| einen gehen von einer klaren Entscheidung aus, aber für wen? Darüber sind | |
| sie sich uneinig. Kadir Öğüt ist hoffnungsvoll, was die türkische | |
| Gesellschaft angeht: „Diese Gesellschaft hat bereits früher undemokratische | |
| Ereignisse überwunden. Vielleicht nicht bei diesen Wahlen, aber wir wissen, | |
| dass sogar ein einziges Streichholz die Dunkelheit erhellt und früher oder | |
| später wird es brennen.“ | |
| *Auf Wunsch wurden die Namen durch die Redaktion geändert | |
| 4 Jun 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Pia Leibnitz | |
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| Schwerpunkt Türkei | |
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