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# taz.de -- Wahlkampf in der Türkei: Der Blick aus dem Teehaus
> Thrakien ist eine der CHP-Hochburgen im Westen der Türkei, trotzdem hat
> die AKP auch hier Anhänger. Ein Stimmungsbild vor den Wahlen am 24. Juni.
Bild: Yılmaz (links) und Uğurlu (rechts) sitzen zusammen, obwohl sie verschie…
Thrakiens Landschaft ist gezeichnet von großflächigen Industrieanlagen. An
der westlichen Grenze zu Bulgarien und Griechenland liegt Edirne, in der es
kaum Fabriken gibt, was eher untypisch für diese Region ist. Daher leben
hier vor allem Studierende, kleine Gewerbetreibende und Straßenhändler. In
den Tagen um den sechsten Mai ist es in der Stadt wegen des Frühlingsfestes
Hıdırellez sehr voll, aber die Gemüsegroßmarkthalle im Stadtzentrum ist
ruhig. Hinter dem Eingang, gleich unter dem zehn Meter hohen Eingangsschild
befindet sich eine kleine Teeküche.
An einem der drei Tische sitzt Muhamer Uğurlu. Ein Mann mit Brille, einem
Schnurrbart, der über die Mundwinkel geht, so er von Ultranationalisten
getragen wird. In einer Hand hält er eine Zigarette, mit der anderen spielt
er Backgammon auf dem Smartphone. Uğurlu ist Fernfahrer und ist daher
häufig in Europa unterwegs. Seine Wahlentscheidung für den 24. Juni steht
bereits fest: „Ich sehe keine bessere Regierung als die jetzige. Nicht weil
die AKP so toll wäre, einfach weil die anderen noch schlechter sind.“
Die Region Thrakien ist eigentlich eine Hochburg der CHP, die vor allem von
laizistischen und säkularen Bevölkerungsteilen unterstützt wird. Seit
vielen Jahren landesweit Oppositionsführerin, lag die kemalistische Partei
bei den Parlamentswahlen 2015 in Edirne weit vor der AKP. Uğurlu findet,
die AKP-Regierung, die seit 16 Jahren das Land regiert, habe manches
richtig und anderes falsch gemacht. Ihm sei zwar aufgefallen, dass sich die
Ungerechtigkeiten im Land in letzter Zeit gehäuft haben. Das störe ihn aber
nicht so sehr, dass er eine andere Partei wählen würde. „Ich komme viel
herum. Menschenrechte und so gibt es hier nicht. Ohne Gerichtsverhandlung
wird verurteilt, das stört mich.“
## Wegen Großprojekten gewählt
Allerdings seien die Großprojekte, mit denen sich Staatspräsident Erdoğan
bei Kundgebungen rühmt, einer der Gründe, weshalb Uğurlu die AKP wählt.
„Ich sehe vor allem das, was mich direkt etwas angeht. Ich bin Fahrer, sie
haben Straßen gebaut. Und sie haben sich um das Gesundheitswesen
gekümmert.“
Jahrelang gab Uğurlu seine Stimme der rechtsextremen MHP, deren Chef Devlet
Bahçeli einst einer der schärfsten Gegner Erdoğans war. Seit der
Ankündigung des vorgezogenen Wahltermins hat sich aber einiges geändert.
Die MHP und die AKP sind ein Wahlbündnis eingegangen. So will Uğurlu am 24.
Juni für Erdoğan als Präsident und die MHP als Partei stimmen. Meral
Akşener, Präsidentschaftskandidatin der Iyi-Partei, die wegen
Unstimmigkeiten mit der Parteispitze aus der MHP ausgetreten ist, ist für
Uğurlu keine Option. Der Grund: Akşener ist eine Frau. „Ich bin 48. So
etwas gab es bisher in unserer Partei noch nicht. Wir geben keiner Frau
unsere Stimme. Ich persönlich glaube auch nicht, dass eine Frau von
MHP-Anhängern gewählt wird.“
An dieser Stelle mischt sich Taşkın Yılmaz ein. Er betreibt die Teeküche
und lauscht schon eine Weile dem Gespräch. „Die Regierung macht die
Unterschicht fertig. Man sieht doch, wie es den Händlern geht“, regt er
sich auf. Obwohl erst 40 Jahre alt, ist seine Stirn schon gelichtet.
Offenbar hat sich die Wut in ihm schon länger aufgestaut, die Worte
sprudeln nur so aus ihm heraus.
## Die Geschäfte laufen nicht gut
Bereits seit zehn Jahren betreibt Yılmaz die Teeküche. In letzter Zeit
liefen die Geschäfte nicht gut. Obwohl ihm viele Maßnahmen der derzeitigen
Regierung nicht gefallen, will er der Partei kein Unrecht tun, sie hätten
auch Gutes getan. Kritik hat er dennoch: „Gut, sie haben Straßen und Tunnel
bauen lassen. Aber wer hat die Aufträge bekommen? Ausländer – und das Geld
dafür kommt aus der Tasche der Leute hier. Warum vergeben sie die Aufträge
nicht an einheimische Ingenieure und Unternehmen?“, sagt er.
Auch Yılmaz kommt auf die Veränderungen im Gesundheitswesen zu sprechen.
Die Krankenhäuser seien sehr gut, trotzdem scheue er sich vor einem Besuch.
„Du weißt ja nicht, wie viel sie dich am Ende bezahlen lassen“, so Yılmaz,
der bereits Schulden bei seiner Versicherung hat. Auch kritisiert er den
Einmarsch des türkischen Militärs in Afrin: „Was haben wir mit dem Krieg zu
schaffen? Wir haben die Nase voll davon. Und ich meine, was hast du mit dem
Krieg zu tun, dass du unsere Kinder dahin schickst?“, fragt er aufgebracht.
Der Präsident trotze der ganzen Welt, aber kein einziges Land nehme die
Türkei ernst.
Für Yılmaz ist klar, er gibt seine Stimme dem Viererbündnis, das die
Oppositionsparteien CHP, Iyi-, Saadet- und Demokratische Partei unter
Ausgrenzung der HDP gebildet haben. Auf die Frage, ob sich die Lage im Land
ändern würde, wenn das Viererbündnis die Wahlen gewinnt, antwortet er: „Ein
Mann allein macht, was er will. Aber vier Leute können nicht tun, was sie
wollen. Sie können nicht unabhängig voneinander etwas entscheiden.“ Das sei
viel besser, freier und demokratischer. Yılmaz bezweifelt zwar, dass die
Wirtschaft wieder auf die Beine kommt, aber eines ist für ihn gewiss: „Die
müssen da weg.“
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
18 May 2018
## AUTOREN
Zülal Koçer
## TAGS
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Politik
Türkei
Toplum
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