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# taz.de -- Er will unverblümt sprechen
> Sexualität, erste Liebe, Drogen, Ausgrenzung. Sprechen, worüber man
> eigentlich nicht spricht: Das sind Themen, die Kinder und Jugendliche
> umtreiben. Wolfgang Stüßel bringt sie auf die Bühne. Seit 30 Jahren, im
> Berliner Theater Strahl
Bild: Wolfgang Stüßel mit Schallplattensammlung in seinem Wohnzimmer
Von Lisa Becke (Text) und Dagmar Morath (Fotos)
Bis 1983 waren die Häuser der Blumenthalstraße 13 bis 15 im Berliner Bezirk
Schöneberg besetzt. Wolfgang Stüßel war einer der Besetzer. Später ist er
der Einzige, der wieder in das Haus zog. Verräter, nannten ihn die anderen
da. Besucht haben sie ihn trotzdem immer wieder.
Draußen: Stüßel wohnt im vierten Stock des Berliner Altbaus. Vom Balkon aus
„hat man die besten Plätze fürs Tempelhofer Feuerwerk“. Den Fernsehturm
sieht man auch. Hinterm Haus ist ein großer Garten, dort wo früher die
Seitenflügel waren. Sie wurden abgerissen. „Zum Glück“, sagt Stüßel.
Deshalb gibt es den Garten. „Wegen der Wohnungsnot würde das heute niemand
mehr machen.“
Drinnen: Der 63-Jährige lebt mit einem Mitbewohner in einer
Wohngemeinschaft. Mit seiner Partnerin dagegen führt er seit 36 Jahren eine
Fernbeziehung. „Sie will nicht in die Großstadt, ich will nicht in die
Kleinstadt.“ An der Küchentür hängt eine Zeichnung des Karikaturisten OL:
„Komm Schatz, sag mir was Schmutziges“, steht auf dem Bild, auf dem ein
Mann und eine Frau nebeneinander im Bett sitzen. „Küche“, sagt die Frau. Im
Wohnzimmer steht ein großer Tisch, daneben ein rotes Sofa. Unterm Fernseher
sind Schallplatten aufgereiht. 1.200 besitzt er, David Bowie, Nick Cave,
AnnenMayKantereit – solche Musik begeistert ihn.
Das denkt er: „Mich nervt das, wenn alle nur noch an diesem Ding hängen.“
Mit Ding meint er das Smartphone. Aber wenn es um Themen geht, die die
Jugendlichen berühren, dann habe sich in den 30 Jahren seit Gründung des
Theaters Strahl nichts verändert. „Wenn wir im Stück Konflikte mit den
Eltern ansprechen, wenn es um Anerkennung und Selbstbehauptung geht, da
wird es auf einmal ganz still im Publikum.“ Er findet, es sollte für
Schüler und Schülerinnen verpflichtend sein, ins Theater zu gehen.
Blödes Theater: Als er selbst jung war, sah die Sache noch anders aus. „Nie
wieder ins Theater“, schwor er sich mit 15, todlangweilig und nichts
verstanden. Mit seiner Schulklasse war er in einer Theatervorstellung der
„Räuber“, die ging drei Stunden.
Jugend in der Kleinstadt: Er ist Einzelkind, wächst aber mit seiner Cousine
auf, in Bünde in Ostwestfalen. Wollten die Jugendlichen dort Räume für sich
erobern, stießen sie auf Widerstände. „Wir haben gelernt, für unsere Dinge
zu streiten.“ Das Jugendzentrum haben sie sich erkämpft und dann selbst
ausgebaut. „Meine Eltern haben mir einen großen Freiraum gelassen.“ Die
Maxime war immer nur: Die Schule darf nicht leiden. Und wie wurde er
aufgeklärt? Gar nicht. Das war dann so: „Du weißt ja sowieso schon alles.“
Doch Theater: Es waren die 70er Jahre, und er war gerade Student in
Bielefeld, da hörte er, dass die Aufführung des Aufklärungsstück „Was hei…
denn hier Liebe?“ in seiner Heimatstadt vom Stadtrat verboten wurde – zu
anstößig. Am Ende konnte es trotzdem aufgeführt werden, weil eine
Jugendorganisation der SPD einen Raum zur Verfügung stellte. „Ich fand das
gut, dass man so unverblümt über alles sprechen konnte in diesem Theater.“
Der Freund, der ihm auf die Sprünge hilft: Im Bücherregal steht eine
Broschüre des Sängers und Schauspielers Klaus Hoffmann: „Das süße Leben�…
Das Heft steht quer, sodass man die Vorderseite sehen kann. Fan? „Nee, das
ist ein Freund von mir.“ Weil für Stüßels Surfbrett in der Wohngemeinschaft
kein Platz war, stand das bei Klaus Hoffmann. Der wurde zu einer Art
Mentor. „Der ist ja so ein Macher – wir standen zusammen bei ihm im
Wohnzimmer, und dann meinte er zu mir: ‚Spiel mir hier mal was vor‘.“ Das
hat Stüßel dann gemacht, und so fing das mit dem Schauspielern.an bei ihm.
Pädagogik: Zunächst hat Stüßel aber Pädagogik studiert und danach einen
Kinderhort in Berlin-Kreuzberg geleitet. In der Heimerziehung hat er
bemerkt: „Einen Zugang zu den Jugendlichen bekommt man entweder durch Sport
oder durch Theater.“ Weil er nebenher als Erzieher weitergearbeitet hat,
konnte er sich seine Ausbildung an einer Schauspielschule finanzieren. Da
war er schon „echt alt, eigentlich zu alt für die Schauspielschule“. Denn
für die durfte man nicht über 25 sein. Funktioniert habe das dann
trotzdem. Wie, das sagt er nicht. Er ist also Diplompädagoge und
ausgebildeter Schauspieler. Fürs Jugendtheater keine schlechte
Voraussetzung.
Selber machen: Ende der 80er Jahre war Aids plötzlich ein großes Thema. Ein
Bekannter war betroffen. „Diese Leute liefen Gefahr, ausgegrenzt zu
werden.“ Dem wollten er und vier Freunde etwas entgegensetzen. Sie wollten
das Thema unter die Leute bringen, junge Leute aufklären. 1988 haben sie
das Theater Strahl gegründet. Dieses erste Stück zum Thema Aids, „Dreck am
Stecken“ hieß es, war ein voller Erfolg. Einladungen in andere deutsche
Städte folgten. Seine Eltern fanden es nicht gut, dass er doch mit dem
Theater anfing. „Aber da war ich durch, ich hatte ja davor einen
anständigen Beruf gelernt.“
Verlogen: Die fünf Theatermacher, alle beruflich aus dem sozialen
Bereich, hat schockiert, wie verlogen die Gesellschaft mit Sexualität
umgeht. In vielen Städten, wo sie mit ihrem Stück tourten, wurde zwar
gesagt: „Wunderbar, dass ihr hier spielt.“ Aber die Eintrittskarten, an
denen ein Kondom hing, durften sie nicht verteilen.
Denkanstöße: Sexualität, erste Liebe, Drogen, Ausgrenzung, Verhältnis der
Religionen, die Neue Rechte. „Unsere Themen liegen eigentlich auf der
Straße.“ Viele neue Ideen entwickeln sie in Nachgesprächen mit den
Schulklassen. „Man fällt aber ständig auf die Schnauze“, etwa mit Szenen,
die einfach nicht funktionieren. Dann versuchen sie, etwas am Stück zu
ändern. Wenn es gar nicht geht, wird das Stück abgesetzt. Schlechte Stücke
können sie sich nicht leisten. „Wir sind auf das Publikum angewiesen, wir
brauchen das Geld.“
Theatergänger: Zu Beginn der Aufführung sind die Jugendlichen oft
desinteressiert. „Och nö, Theater.“ Das ist eine „Aufforderung“ für i…
Meist sind es Schulklassen, die ins Theater kommen. Viele zum ersten Mal.
„Unsere Zuschauer sitzen nicht einfach still da und klatschen dann am
Ende.“ Im Gegenteil. Wenn die Jugendlichen während des Stücks mit etwas
beschäftigt sind, gibt es oft Unruhe. Deshalb ist jede Vorstellung anders.
Masken: Es gibt ein Stück, das mit Masken gespielt wird. Es ist das
einzige, wo er selbst auf der Bühne steht. „Da kann ich noch den
Jugendlichen spielen.“ Sonst ist er hauptsächlich mit Verwaltung und
Programmgestaltung beschäftigt.
Hemden: Stüßel trägt bei dem Gespräch sein Lieblingshemd: rot-grün-kariert
mit ein bisschen Weiß. Aber als er aus dem Regal sein Lieblingsbuch ziehen
will, „Die Geschichte vom Löwen, der nicht schreiben konnte“, um zu zeigen,
„dass es im Buch so ist wie im Leben“, fällt ihm auf, dass sein Ärmel
aufgerissen ist. „Oh wie peinlich!“ Er holt ein anderes Hemd. „Man kann
sich ja als Künstler kein neues leisten“, meint er.
Wann ist er glücklich? „Raten Sie. Natürlich im Theater Strahl.“ Aber auc…
wenn er Zeit mit seiner Partnerin verbringt; zu ihr braucht er viereinhalb
Stunden. Oder mit seinen Kindern. Der Sohn, 35, ist Schauspieler, die
Tochter, 27, hat Regie studiert. „Auf meine Kinder bin ich sehr stolz.“
Glücklich ist er auch, wenn er Musik hört, die berührt. Manchmal ist das
Klaus Hoffmann.
Und was halten Sie von Merkel? Da ist er 17 Sekunden still, so lange wie
sonst nicht. Dann: „Spontan hätte ich gesagt, ‚nichts‘. Bei längerem
Überlegen finde ich die Antwort aber doch etwas schwieriger. Dass sie in
der Flüchtlingsfrage lange standhaft war, nötigt mir Respekt ab.“
19 May 2018
## AUTOREN
Lisa Becke
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