| # taz.de -- zwischen den rillen: Gott der Zeit und jüngstes Gericht | |
| Bild: Unknown Mortal Orchestra: „Sex & Food“, (Jagjaguwar/Cargo) | |
| Der westliche Mensch ist die Fliege auf dem Müllhaufen der Geschichte. | |
| Inmitten von abgetragenen Turnschuhen, Colaflaschen, alten Kleidern und | |
| Pornozeitschriften, inmitten von Essensresten und kaputtem Kinderspielzeug | |
| fristet er sein Dasein. Und irgendwo spielt noch eine alte Boombox ein | |
| Lied. Dieses Bild entwirft das Zeichentrick-Video zu „American Guilt“, der | |
| aktuellen Single des Unknown Mortal Orchestra. Es ist eine einzige lange | |
| Kamerafahrt über eine Müllkippe. | |
| Während das Unknown Mortal Orchestra auf dem Vorgänger „Multi-Love“ von | |
| polyamouröser Liebe sang, wird es auf dem neuen Album grundsätzlich: „Sex & | |
| Food“ heißt es. Wie auf den vorherigen Alben unternimmt das Orchestra unter | |
| der Leitung von Frontmann Ruban Nielson Expeditionen in die Rock- und | |
| Popgeschichte, wobei das base camp psychedelische Rockmusik bildet. | |
| Das ist nicht nostalgisch: Dieses Fundament entspricht nicht nur Nielsons | |
| Vorlieben, sondern zeigt die Unmöglichkeit, heute Rockmusik im klassischen | |
| Sinn zu machen und doch auf dem Müllhaufen ständig auf sie zu stoßen. Würde | |
| nicht die Erfahrung durch die Augen einer Fliege zu blicken, einem LSD-Trip | |
| nahekommen? Kein Wunder, dass gleich im zweiten Song „Major League | |
| Chemicals“ besungen werden: „She wanted to / Find a way / To be someone | |
| else for a day / Major league chemicals make her grave / Miracles in a | |
| bathroom stall“. | |
| ## Die Toilettenkabine im Club | |
| Das ist das Prinzip des Unknown Mortal Orchestra: Eben noch „Major League“ | |
| und Kommentar zur Lage der Welt, dann schon wieder die Toilettenkabine im | |
| Club. Der erste Song des Albums, ein kaum eine Minute langer Auftakt, | |
| kündigt mit dem Titel „A God Called Hubris“ ganz große Fragen an und stei… | |
| dann mit einem maximalbanalen „Hey guys“ ein. Im Laufe von „Sex & Food“ | |
| geht es noch um das „Ministry of Alienation“, den Gott der Zeit, das | |
| jüngste Gericht sowie um den gegenwärtig wichtigsten Menschheitsmythos | |
| „Internet“. | |
| Dazwischen findet sich eine Ode an die Tochter, die keine Fliege auf der | |
| Mülldeponie, sondern naturverbundene „Hunnybee“ ist. In „How Many Zeros�… | |
| geht es um die freudianischen Qualitäten der Autokorrektur. | |
| Die Stimmung auf „Sex & Food“ hält sich die Waage zwischen psychedelischem | |
| Driften, düsterem und verzerrtem Geschrammel wie in „American Guilt“, R&B- | |
| und Disco-Referenzen wie in „Hunnybee“ und verspielteren Elementen, die | |
| sich beispielsweise im stolpernden Drumloop von „A God Called Hubris“ | |
| andeuten. Dramatisch und bedeutungsschwanger wechselt sich mit laid back, | |
| lustig – „no one will fuck an ugly robot“, heißt es in „Ministry of | |
| Alienation“ – und launisch ab. Zusammengehalten wird das Album von einem | |
| leicht kaputten, lo-fi klingenden Grundsound. Als wäre da etwas, was die | |
| äußere Welt nicht ganz heranlässt. | |
| Das Cover zeigt einen Schutzanzug, der fern an die Kleidung von | |
| Fechter*innen oder Imker*innen erinnert. Auch er hält die Welt ein wenig | |
| auf Abstand. Dazu passt, dass „Sex & Food“ auf Reisen entstanden ist. In | |
| Auckland und Seoul, in Portland und Reykjavík, es hat ein Erdbeben in | |
| Mexiko City und die Monsunsaison in Hanoi überstanden. Es hat, wie man | |
| sagt, die Welt gesehen. Aus den facettenreichen Augen einer Fliege | |
| immerhin. Elias Kreuzmair | |
| 27 Apr 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Elias Kreuzmair | |
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