# taz.de -- Das System hat ihn verändert | |
> Karl Marx ist für Gökhan Akgün ein Idol. Wegen der Gerechtigkeit. Wegen | |
> der Gleichheit. Er hat mehr gespürt als verstanden, dass das, was Marx | |
> schrieb, etwas mit ihm zu tun hat | |
Bild: Gökhan Akgün vor dem Kino Intimes in Berlin-Friedrichshain | |
Aus Berlin Thomas Feix | |
Genau zwei Bücher hatten Gökhan Akgüns Eltern daheim im Bestand. Den Koran | |
und das Telefonbuch von Berlin. Nie, dass im Familienkreis über Politik | |
geredet worden wäre. Kein Gedanke daran. Politik als Gesprächsthema war bei | |
Vater und Mutter Akgün nicht erwünscht. | |
„Beides Analphabeten“, sagt Gökhan Akgün, Vater und Mutter. Putzfrau sie, | |
Maurer er, vor fünfzig Jahren als Gastarbeiter aus der Türkei nach | |
Deutschland eingewandert, nach Berlin. Lesen und Schreiben werden sie nicht | |
mehr lernen. Fühlen sich außerstande dazu. Wohnen am Kottbusser Tor in | |
Kreuzberg SO 36. Dort, wo er zusammen mit sieben Geschwistern aufgewachsen | |
ist. | |
Es gab die Moschee, es gab den Imam, und es gab die türkischen | |
Nationalisten, alles Dinge, von denen Akgün von Anfang an fühlte, dass sie | |
ihn bedrücken. Aber es gab auch die Kommunisten. | |
Politik ist Akgün, Jahrgang 1982, erstmals auf der Straße begegnet. Am | |
Übergang von den Achtzigern zu den Neunzigern des letzten Jahrhunderts. In | |
Gestalt von Wahlkampflosungen an Hauswänden und Mauern in den Straßen rings | |
um das Kottbusser Tor herum. Erhellendes zu den Losungen durfte er zu Hause | |
nicht erwarten, das wusste er. „Die Straße“, sagt er, „hat mich | |
sozialisiert.“ | |
Auf der war unter anderem die TKP aktiv, die Türkische Kommunistische | |
Partei. In ganz SO 36 agitierte sie, ihr Zusatz: marxistisch, leninistisch, | |
maoistisch. Sie erklärte sich selbst etwa zum Beschützer der Kinder im | |
Kiez. Wenn es sich auch oft um nichts anderes drehte als darum, dass die | |
Polizei den Jungen das Ballspielen mitten auf dem Fahrdamm untersagte. | |
Durch die Anwesenheit der kommunistischen Kader verspürte Akgün so etwas | |
wie Emanzipation. | |
Seine Welterfahrung: Die vielen verschiedenen Flugblätter, die vielen | |
verschiedenen Parteien und Gruppierungen, und dann der 1. Mai, der linke | |
Kreuzberger 1. Mai. Zwei von den TKP-Losungen sind Akgün gegenwärtig. | |
„Fordert nicht Arbeit und Brot, sondern Kuchen und Freizeit.“ Und: „Es le… | |
die Rote Armee unter der Führung Stalins, die die Welt vom Nazifaschismus | |
befreiten.“ Jede der Losungen war mit bunten Bildern illustriert, die | |
leicht zu entschlüsseln waren, ähnlich wie Comics. | |
Die Aufrufe der Partei buchstabierte Akgün mehr durch, als dass er sie | |
begriff. Sie faszinierten ihn, sie zogen ihn an. Er wollte sie verstehen. | |
Das war etwas anderes als die Parolen der Grauen Wölfe mit ihrem | |
Nationalismus oder die Gebete in der islamischen Gemeinde. Der Marxismus | |
und die Linke, sagt er, sind seit damals zu Lichtpunkten für ihn geworden. | |
Autos oder Mädchen interessierten ihn nicht. Nicht vordergründig | |
jedenfalls. | |
Der Korankurs in der Moschee. Die Teilnahme daran brachte Akgün nichts. Auf | |
die Fragen, die ihn beschäftigten, hatte der Islam keine Antwort. Wie das | |
mit der Gerechtigkeit ist und so. Manche von den Fragen unterdrückte der | |
Imam mit Energie. Immer nur hinter Geld hinterher gewesen, sagt Akgün. | |
Jeden Freitag Geld von den Gläubigen in der Moschee eingesammelt. | |
Keineswegs eine Autorität. | |
Die Kommunisten der TKP haben eine Art gehabt, sagt er, auf die Leute | |
einzugehen, ihnen zuzuhören, zu argumentieren und noch einmal nachzufragen, | |
geduldig. So hat er es als Jugendlicher erlebt, und es hat ihm imponiert. | |
Mamoș, seine Frau, ist durch ihn mit dem Marxismus bekannt geworden. | |
Inzwischen ist es so, dass sie die Leidenschaft für Marx mit ihm teilt, | |
sagt er. Bei ihnen zu Hause in Steglitz hat Akgün die drei Bände „Das | |
Kapital“ von Karl Marx im Regal stehen und Bücher von Erich Fromm und von | |
Osho, dem Inder. Dazu von Thomas Piketty „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, | |
ein populäres Buch. | |
Eines, in dem es um Vermögenskonzentration, die daraus folgenden sozialen | |
Unterschiede und die deswegen dringend erforderliche Verteilungsgleichheit | |
geht. Gleichheit und Verteilung, linkes Gedankengut, Triumph der Vernunft. | |
Ehrliches Verteilen der materiellen und geistigen Ressourcen, das ist es, | |
was Akgün bewegt. Er weiß, dass Veränderungen aus dem System heraus kommen | |
müssen, sollen sie dauerhaft erfolgreich sein. Nicht von außen | |
hereingetragen. | |
Beim Studium marxistischer Schriften hat er überdies festgestellt, dass | |
Engels genauso wichtig ist wie Marx. Einfacher zu verstehen auf jeden Fall. | |
Daher hat Akgün Engels in seinen Kanon mit aufgenommen. | |
Mit Belletristik befasst er sich ebenfalls, Coelho, Dostojewski, Tolstoi, | |
Bukowski. Einige von den Autoren, von denen er findet, dass man sie gelesen | |
haben muss. Deren Bücher er sich in öffentlichen Bibliotheken ausgeliehen | |
hatte. In der U-Bahn auf dem Weg zu den Berufsschulen und zurück hat er sie | |
dann gelesen. Bücher sind es, die alle auf der Spiegel-Bestsellerliste | |
gewesen waren, die er sich regelmäßig durchgesehen hatte. | |
Eine weitere klassische linke Forderung, sagt er: kostenloser Zugang zu | |
Bildung, wozu kostenlose Buchausleihe für alle gehört. | |
Im Moment hat Akgün eine Reclam-Ausgabe von „Das Kommunistische Manifest“ | |
von Karl Marx und Friedrich Engels in seiner Umhängetasche mit dabei. Für | |
die Fahrstrecke zwischen Büro und zu Hause. Er zitiert: „Die Proletarier | |
dieser Welt haben nichts zu verlieren als ihre Ketten.“ Und gleich | |
hinterher: „Aber sie haben eine Welt zu gewinnen.“ | |
Ergründen, weshalb einst so viele Millionen von Bürgern in so vielen | |
Ländern der Erdedem Marxismus zugewandt waren. Die Mühsal der Theorie. Was | |
ist es, das einen links denken lässt? | |
Adolf Hitlers „Mein Kampf“ hat er sich aus demselben Grund heraus besorgt. | |
Herausfinden, was Menschen zum Lesen des Buches angetrieben hat und noch | |
antreibt. Woher die rechte Gesinnung? Der Hass auf alles das, was anders | |
ist? | |
Eine seiner Lehrerinnen hatte ihn und andere Mitschüler an die Stätten des | |
Holocaust in Kreuzberg geführt. „Wir Deutschen“, sagt Akgün, „haben | |
besondere Verantwortung dafür, was das Gedenken daran anbetrifft. Dass so | |
etwas nie wieder passiert.“ | |
Der U-Bahnhof Samariterstraße ist in der Nähe seiner Arbeitsstelle in der | |
Frankfurter Allee. Er ist Vorstandsmitglied des Personalrates der | |
allgemeinbildenden Schulen des Stadtbezirks Friedrichshain-Kreuzberg. | |
Zusätzlich ehrenamtliches Mitglied des Berliner Gesamtpersonalrats der | |
allgemeinbildenden Schulen. | |
Er sagt, dass er dankbar dafür ist, dass ihm als Sohn von Analphabeten | |
Bildung und sozialer Aufstieg ermöglicht worden sind, wo gibt es das schon, | |
durchaus nicht überall. Er sagt, dass er etwas davon zurückgeben möchte. | |
Deshalb setzt er sich für Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit speziell | |
bei Kindern ein. | |
Er selbst ist in eine Klasse zusammen mit Kindern ausschließlich türkischer | |
Herkunft zur Schule gegangen. Den Aufstieg würde er grundsätzlich nicht und | |
überhaupt niemals schaffen, haben die einen Lehrer ihm gesagt. Die eher | |
konservativ Orientierten sind das gewesen, sagt er. | |
Nicht Herkunft entscheidet über den Bildungserfolg, haben andere Lehrer ihm | |
wiederum gesagt. Diejenigen, die links gedacht haben. Alle Türen stehen dir | |
offen. Und, sagt er, was war? „Sie haben recht behalten.“ | |
Auf der Handelsschule habe er einen guten Abschluss hingelegt, sagt er, und | |
zwar deshalb, weil er marxistisch geschult ist. Einen Abschluss in | |
Wirtschaft wollte er nicht. Hinwendung zum Kapitalismus wäre das seiner | |
Meinung nach gewesen. Getreu der marxistischen Lehre lehnt er ihn ab. | |
Engagiert war er schon immer, sagt er. Klassensprecher in der Grundschule, | |
in der Berufsschule, in der Oberschule bis zum Schulsprecher hin. Sich | |
immer als streitbar erwiesen. | |
Er spricht von Abschlüssen an verschiedenen sozialpädagogischen | |
Berufsschulen und von einem Studienabschluss in Kindheitspädagogik. Von | |
sechs Jahren als Erzieher in einer Ganztagsschule mit zu fast hundert | |
Prozent nichtdeutschen Kindern. Von der Zeit als Leiter des | |
Freizeitbereichs an einer Grundschule. Im vergangenen Jahr dann die | |
Freistellung für die Beschäftigtenvertretung. | |
Hinter seinem Schreibtisch im Büro hat sich Akgün an der Wand ein | |
schwarz-weißes Rudi-Dutschke-Foto in halbem Postkartenformat angebracht. | |
Marx als ebenso große Porträtaufnahme wird bald folgen. | |
Der Studentenführer Rudi Dutschke ist Akgün ein mutiger, ein unbeugsamer | |
Mann und deshalb ein Idol für ihn. Marx und Marxismus aber sind ihm | |
Grundpfeiler der eigenen Identität, wie er es ausdrückt. Auf Marx wie auf | |
Dutschke als Vorbilder ist er gleichermaßen stolz. „Kann man stolz drauf | |
sein“, sagt er. | |
5 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Thomas Feix | |
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