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# taz.de -- nordđŸŸthema: Die weißen Ritter sind blind
> Annika Bronsema ist „BrĂŒckenĂ€rztin“ am Kinderkrebszentrum des
> UniversitÀtsklinikums Hamburg-Eppendorf. Sie begleitet die Patient*innen
> und ihre Familien bis zum Ende – gerade dann, wenn es keine Aussicht auf
> Heilung mehr gibt
Bild: Um sich zu sammeln bleibt nur wenig Zeit: „Es gibt Tage, an denen kommt…
Von Liyang Zhao
Ihre orangefarbenen Nikes tragen sie mit schnellen Schritten. Annika
Bronsema geht den Flur entlang, sie hat einen weißen Kittel am, in der
Brusttasche ein Lineal und einen Stift, an der Seite ein kleines
Arzneibuch. Ein Stethoskop baumelt um ihren Hals. Vor der GlastĂŒr bremst
sie ab, drĂŒckt auf einen Knopf an der Wand. Langsam öffnet sich die schwere
TĂŒr. Ihr Blick wandert bereits suchend auf die andere Seite. Mit einer
schnellen Bewegung huscht sie durch den TĂŒrspalt und schĂŒttelt im nĂ€chsten
Moment bereits die Hand einer Mutter. Neben ihr steht ein kleiner Junge,
vielleicht vier Jahre alt. Bronsema beugt sich zu ihm hinunter und hebt
ihre Hand fĂŒr ein High Five. Lachend schlĂ€gt der Kleine ein.
Eine Arbeit mit Kindern, das wollen viele. Auch Annika Bronsema hatte
diesen Wunsch. „Ihre“ Kinder tollen allerdings nicht auf SpielplĂ€tzen herum
oder sitzen in Klassenzimmern. Die Kinder, mit denen sie arbeitet, haben
eins gemeinsam: ein buntes Pflaster um den Finger. Die Ärztinnen haben
ihnen fĂŒr ein Blutbild in den Finger gepiekst. Denn diese Kinder haben
Krebs.
Dienstags hat Annika Bronsema Sprechstunde im Kinderkrebszentrum des
Uniklinikums Hamburg-Eppendorf. Heute ist sie im „Aquarium“. So wird das
Untersuchungszimmer mit der Wand aus Glas genannt; darauf schwimmen bunte
Fische und grĂŒne Algen. Mit ihrem jungen Patienten und seiner Mutter
betritt Bronsema das Zimmer. Am Ende der Untersuchungsliege hÀngt eine
lange Papierrolle. Mit einer raschen Bewegung zieht sie daran und bedeckt
die Liege mit Papier. Unaufgefordert klettert der Junge darauf – er kennt
das alles schon. Die Ärztin setzt sich auf den Stuhl, dreht sich mit einem
Schwung zum PC. Ungeduldig trommeln ihre Finger auf die Tischplatte. Dann
leuchtet der Bildschirm auf. Ihre Augen flitzen ĂŒber die Zahlen und
Tabellen darauf. Die Blutwerte scheinen in Ordnung zu sein. Sie dreht sich
um und streichelt dem Jungen ĂŒber die Wange. „Na, wie geht’s uns heute?“
Viele ihrer Patient*innen werden irgendwann entlassen – geheilt. Aber
lÀngst nicht alle. Manche Krankheiten sind ab einem gewissen Grad nicht
mehr behandelbar. Dann entscheiden die Ärzt*innen, die Therapie abzusetzen.
Diese Kinder werden dann Palliativpatient*innen. Bei ihnen geht es nicht
mehr um eine Heilung, sondern nur noch darum, die Beschwerden zu lindern.
Bronsema ist „BrĂŒckenĂ€rztin“: Sie begleitet die Kinder durch die
verschiedenen Etappen der Behandlung – bis hin zum Endstadium, in dem die
Kinder zu Hause versorgt werden. Bronsema kennt alle Kinder beim Namen. Sie
weiß Bescheid ĂŒber ihre Hobbys und ihre Familien.
Jetzt geht die Ärztin voraus, die kleinen KinderfĂŒĂŸe trippeln hinterher.
Mit einer schnellen Handbewegung streicht Bronsema sich ein paar braune
Locken aus dem Gesicht und dreht sie zu einem Dutt. Aus ihrer Seitentasche
zĂŒckt sie einen Bleistift und versenkt ihn zur Befestigung in den Haaren.
Dann dreht sie sich um: „So ihr Lieben, jetzt gehen wir zum Finger-Pieks.“
Es ist Geschwistertag in der Klinik: Eine Gruppe von Kindern zwischen acht
und 14 Jahren folgen Bronsema aufgeregt. Sie sind die Geschwister der
kranken Kinder, die oft nur wenig Aufmerksamkeit bekommen. Aber heute
stehen sie im Mittelpunkt und erkunden den Ort, an dem sich ihre
Geschwister sonst aufhalten.
„Im RĂŒckenmark ist eine große Fabrik“, erklĂ€rt Bronsema den
Geschwisterkindern. Sie malt ein großes FabrikgebĂ€ude auf die Papierablage
des Untersuchungsbettes. Die Kinder stehen um das Bett herum und schauen
gespannt zu. „Im Blut gibt es verschiedene Farben: rot, gelb und weiß. Das
Weiße sind die Ritter. Sie bekĂ€mpfen die Krankheiten in unserem Körper. Bei
einer LeukÀmie sind diese Ritter blind. Dann können sie uns nicht helfen.
Deshalb dĂŒrfen eure Geschwister nicht mit euch spielen, wenn ihr krank
seid. Wenn sie sich anstecken, können die weißen Ritter sie nicht heilen.“
20 Minuten spÀter, im Untersuchungszimmer: Eine Familie ist zu Besuch. Die
Mutter sitzt auf dem Bett und weint. Bronsema sitzt nah vor ihr und
streicht sanft ĂŒber ihre Schulter. Sie lĂ€chelt ihr aufmunternd zu. Das
Blutbild hat sich nicht gebessert, leider. Aber schlechter geworden ist es
auch nicht.
Nach einem schwierigen GesprÀch mit einer Familie bleibt Bronsema oft ein
paar Minuten im Ärztezimmer. Dann schaut sie aus dem Fenster. Um sich zu
sammeln bleibt aber nur wenig Zeit, denn die nÀchste Familie wartet schon
vor der TĂŒr. Es ist nicht einfach, Eltern zu erklĂ€ren, dass ihr Kind schwer
krank ist und vielleicht nicht ĂŒberleben wird. Oft sind die Eltern
verzweifelt, manche sind vorwurfsvoll.
„Es gibt Tage, an denen kommt alles auf einmal“, erzĂ€hlt Annika Bronsema.
„Von zwölf Palliativpatient*innen geht es plötzlich sechs schlechter. Eine
verwaiste Mutter steht weinend vor der TĂŒr und einer anderen Familie muss
ich spÀter erklÀren, warum wir die Therapie absetzen. Wenn ich dann abends
noch ein Kind zu Hause besuche, bin ich nach einem solchen Tag fix und
fertig.“ Dann fragt sie sich, ob sie gut genug war fĂŒr das letzte Kind am
Abend.
Trotzdem liebt sie ihren Job. „Seit meinem Studium wusste ich, dass ich
Onkologin werden wollte.“ DafĂŒr nimmt sie den Stress in Kauf. Am Ende des
langen Arbeitstages legt Annika Bronsema endlich ihren Kittel ab. Die Nikes
werden gegen Stiefeletten ausgetauscht, das Stethoskop gegen eine rote
Ledertasche. Drei Anrufe erledigt sie hintereinander: eine Verabredung mit
Freunden im Restaurant, GrĂŒĂŸe an ihren Freund – und der Physiotherapeut
bekommt eine Entschuldigung: Sie hat ihren Termin verpasst.
Ihre Freizeit ist fast so gut durchgetaktet wie die Arbeit. Sie besucht
gern Vernissagen und am Wochenende geht’s mal ins Stadion. Und oft ins
Theater: Denn sie ist auch noch ehrenamtliche TheaterÀrztin am Deutschen
Schauspielhaus und am Thalia. Dort steht sie bereit, falls im Publikum oder
hinter der BĂŒhne medizinische Hilfe gebraucht wird. Und jedes Jahr zu
Weihnachten initiiert sie fĂŒr die Stationskinder einen Besuch im „jungen
Schauspielhaus“. Dann wird ein Saal nur fĂŒr sie geöffnet. Nur so haben die
erkrankten Kinder die Chance, ein TheaterstĂŒck zu sehen. Denn im ĂŒblich
vollen Saal ist die Ansteckungsgefahr fĂŒr sie zu groß. Das kann
lebensgefÀhrlich sein.
Annika Bronsema hat selbst zwei Kinder. Heute Abend kĂŒmmert sich der Vater
um sie. Das MÀdchen ist acht, ihr Bruder vier Jahre Àlter. Viermal die
Woche sind sie bei ihr. Sie fĂŒhrt ihren Haushalt allein. WĂ€sche,
Abendessen, aufrÀumen. Dann hilft sie dem Jungen mit den Hausaufgaben und
spielt Klavier mit ihrer Tochter. Ihre Kinder sind gesund, darĂŒber macht
sie sich keine Sorgen. In ihrer Freizeit denkt sie nicht viel an die
Arbeit. „Um so einen Job zu machen, muss man Beruf und PrivatsphĂ€re gut
trennen können“, sagt Annika Bronsema. Und zieht sich den Bleistift aus dem
Haar.
Die Stelle von Annika Bronsema wird durch Spendengelder der
Fördergemeinschaft Kinderkrebs-Zentrum Hamburg e. V. finanziert
8 Sep 2018
## AUTOREN
Liyang Zhao
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