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# taz.de -- Anarchische Chansonnière
> Sie könnte eine Tochter Nina Hagens sein: Die Pariser Sängerin Sarah
> Olivier ist eine aus der Zeit gefallene Bohemienne, die Theater und
> Kabarett, Zirkus und Musik miteinander verbindet. Jetzt kommt sie für
> zwei Auftritte im Supamolly und dem Haus der Sinne nach Berlin
Bild: Sarah Oliviers neues Album ist deutlich rockiger geworden als ihr Debüt
Von Katrin Wilke
Eigentlich unmöglich, irgendwen mit einer so eigenwilligen
Künstlerpersönlichkeit wie Nina Hagen vergleichen zu wollen. Dabei kommt
die ebenso kapriziöse, reichlich anarchistische Pariserin Sarah Olivier
unserer Berliner Exzentrik-Ikone und ewigen Punk-Göre beeindruckend nah,
wird in den heimischen Medien gar als „französische Nina Hagen“ gehandelt.
Und der Vergleich hinkt schon hinsichtlich der enormen Sangeskraft der
Französin nicht, die quasi Hagens Tochter sein könnte und sogar ein wenig
wie diese aussieht, wenn sie sich die expressiven Augen unter dem bisweilen
kahl geschorenen Schädel markant schminkt.
Mit sechs Jahren begann sie mit Klavierunterricht, als junger Teenager
studierte sie lyrischen Gesang. Dem ging sie später auch beruflich nach,
doch fühlte sie sich im Klassik und Opernfach bald beengt und deplatziert.
Sie sei nach eigener Aussage einfach zu punkig, zu freiheitsliebend
gewesen, wollte sich auf anderen Wegen ausdrücken.
Bis heute lässt sich Sarah Olivier schwerlich kategorisieren, andererseits
machen sie ihr Facettenreichtum und ihre stilistische Flexibilität wiederum
in vielen Kontexten überlebensfähig. Sie nur Sängerin zu nennen, würde ihr
nicht gerecht werden. Sie ist vielmehr eine Performerin, auch wenn dieser
Begriff fast zu trendy klingt für diese wunderbar aus der Zeit gefallene
Bohemienne, die bei ihren klamaukig-erotischen Musiktheaterspektakeln
zwischen den Oktaven und Ausdrucksformen nur so umherflattert. Das Bild vom
alles in sich aufsaugenden Schwamm könnte die großzügig mit Humor,
Selbstironie – „die wichtigste aller Philosophien“ – und Sexappeal
gesegnete Künstlerin gut für sich annehmen.
## Mal hauchzart, mal raubeinig
Sie wisse im Grunde gar nicht, wer sie wirklich sei und wo künstlerisch zu
Hause – mit ihrer Liebe für Theater und Kabarett, Zirkus und Musik. Diese
ist so vielgestaltig wie die Orte, an denen Olivier in den
unterschiedlichsten Konstellationen – die letzten Jahre bevorzugt im
Quartett – auftritt: im Punk- oder Bluesschuppen, in einem großen
Rockkonzertsaal genauso wie im schummrigen Varieté oder Chanson-Club.
Die zumeist selbst komponierten Lieder verhandeln poesie- und wortgewaltig
alles real oder surreal-fiktiv Vorstellbare zwischen Leben und Tod, Himmel
und Erde. Mal hauchzart intonierend, mal raubeinig polternd; mal
melancholisch-feingliedrig, mal schelmisch-derb gibt sich die
Charaktersängerin in ihren Moritaten von Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll. Die
speisen sich aus einem ganzen Kosmos an Inspirationen, in dem sich
Hildegard von Bingen und Mozart in trauter Gesellschaft befinden mit Billie
Holiday und einer weiteren charismatischen US-Amerikanerin, der singenden
Avantgarde-Performancekünstlerin Diamanda Galás, sowie den eigenen, gerne
interdiszplinären Landsleuten wie Serge Gainsbourg, Alain Bashung oder
Brigitte Fontaine.
Darüber hinaus fühle sie sich von nahezu jedweder traditioneller Musik
beeinflusst, die der Mongolei oder Pakistans, wie auch von
Gipsy-Traditionen. Aber auch die urbaneren Musikkulturen – HipHop, Reggae,
Dub oder Jazz – hinterlassen ihre mehr oder weniger klaren Spuren in den
Liedern. Auf der Literaten- und Poetenseite schlagen Persönlichkeiten wie
Colette, Baudelaire, Apollinaire und Rilke in Sarah Oliviers Kunst- und
Lebenswelten zu Buche.
Dass die Musikerin ihre Antennen wohl schon früh in alle Himmelsrichtungen
ausfuhr, verdankt sie nicht zuletzt ihrem Vater, den sie auch sieben Jahre
nach seinem Tod als ihre allerwichtigste Inspirationsquelle empfindet. Der
1931 geborene, dem Surrealismus und dem Absurden verbundene Maler Olivier
O. Olivier gehörte mit Fernando Arrabal, Roland Topor und Alejandro
Jodorowsky der „Panik“-Gruppe an, die mit ihren fröhlich-anarchistischen,
freizügigen Performances zwischen 1962 und 1973 so manchen Skandal
anzettelte.
Ihr wortspielerischer Name (panique), der auf den griechischen Gott Pan
zurückging, taucht fünfzig Jahre später bei Sarah Olivier wieder auf, im
gleichnamigen Song „Panique“ ihres 2013 veröffentlichten Debütalbums „P…
Galina“. Den intoniert, besser brüllt sie zusammen mit dem einem
seelenverwandten Pariser Anarcho-Chansonnier Fantazio, der zu seinen
charmant-morbiden Liedpoesien den Kontrabass beackert. Ein anderer
meisterhafter Spieler des Instruments, der Engländer Stephen Harrison, ist
Sarah Oliviers langjähriger Duopartner, mit dem sie quasi im Alleingang
jenes Album aufnahm.
Der dieser Tage erscheinende Nachfolger „Steak & Beedies“ entstand
gemeinsam mit weiteren, auch live mitwirkenden Musikern. Zu Bass, Gitarre
und Drums gesellten sich unter anderem noch Bläser dazu. Produzent war wie
schon zuvor Bob Coke, der auch für Ben Harper oder Noir Désir am Studiopult
saß. Die neuen, deutlich rockigeren, französisch- und englischsprachigen
Lieder komponierte die Französin während eines US-Aufenthalts, der zwar ein
unerwartet plötzliches Ende nahm, aber immerhin auch ihren ersten Roman
hervorbrachte.
Ob man in dem wohl davon erfährt, wie es dazu kam, dass Sarah Olivier
einmal im Gefängnis vor und mit Insassen musizierte? Eine wichtige,
besonders inspirierende Erfahrung. Sie hungere nun mal nach
Sinneseindrücken und menschlichen Begegnungen. Die Liebe, das Nächtliche,
der Wein, das Gespräch, einen Schmetterling eine Stunde lang beobachten –
kurzum, das Leben sei, was sie inspiriere.
26 Apr 2018
## AUTOREN
Katrin Wilke
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