# taz.de -- Neues Wahlgesetz in der Türkei: Wählen oder boykottieren? | |
> Vor der anstehenden Präsidentschaftswahl 2019 öffnet ein neues Wahlgesetz | |
> der Stimmenmanipulation Tür und Tor. Was tun? | |
Bild: „Nein, wir haben gewonnen!“ – Proteste in Istanbul nach dem Referen… | |
Der Student Ismail Kansu* war früh aufgestanden am Morgen des 16. April | |
2017. Es war der Tag, an dem die Türkei über eine neue Verfassung | |
abstimmte. Kansu war Wahlbeobachter in dem Istanbuler Bezirk Esenyurt, in | |
dem traditionell AKP- und MHP-Wähler*innen leben. Gemeinsam mit den anderen | |
Wahlbeobachter*innen nahm er vor der durchsichtigen Wahlurne Platz. Langsam | |
füllte sich die Schule mit Menschen, die sich einreihten, um ihre Stimme | |
abzugeben. | |
Jeder Stimmzettel hatte das Potenzial, einen hitzigen Konflikt zu | |
entfachen, darauf hatte sich Kansu bereits eingestellt. Im Laufe des Tages | |
versuchte er, Wähler*innen davon abzuhalten, ihre Stimme doppelt abzugeben | |
oder mit Handys ihre Stimmzettel zu fotografieren, um diese online zu | |
veröffentlichen. Die anstehende Wahl war enorm wichtig für die Zukunft des | |
Landes. Bei der Stimmenauszählung nach Schließung der Urnen kam es zu | |
Diskussionen über nicht richtig gefaltete Stimmzettel oder Stempel, die | |
außerhalb der Markierung gesetzt wurden. Anschließend gingen die Wahlsäcke | |
in die Obhut der Wahlbeobachter*innen. | |
Kansu, bereits seit den frühen Stunden auf den Beinen, war erschöpft. Er | |
hatte drei Wahlsäcke bekommen, auf zwei setzte er sich, den dritten | |
umschloss er fest mit den Armen. Während der Zählung nickte er für kurze | |
Zeit ein. Als er wieder zu sich kam, hatte Erdoğan das Referendum längst | |
gewonnen. Die hohe Wahlbehörde (YSK) hatte selbst ungültige Wahlzettel für | |
gültig erklärt. Trotz der Proteste von Opposition und Wähler*innen ging | |
Erdoğan mit einer knappen Mehrheit von 51 Prozent als Sieger hervor. | |
Die Wertung der ungültigen Stimmzettel hatte über den Ausgang des | |
Referendums am 16. April 2017 entschieden. Die vom Europarat als | |
Wahlbeobachterin entsandte österreichische Grünen-Abgeordnete Alev Korun | |
sagte, es bestehe der Verdacht, dass vor, während und nach der Wahl bis zu | |
2,5 Millionen Stimmen manipuliert worden seien. Die Oppositionsparteien HDP | |
und CHP kamen zu ähnlichen Einschätzungen. | |
## Auch ungestempelte Wahlzettel sind ab jetzt gültig | |
Das Ja zur Verfassungsänderung ebnete für Erdoğan den Weg zum | |
Präsidialsystem. Nun steuert die Türkei auf die entscheidende | |
Präsidentschaftswahl zu. 2019 stehen Kommunal- und Parlamentswahlen an. Ein | |
neues Wahlgesetz, das im März das Parlament passierte, könnte bei den | |
bevorstehenden Wahlen noch mehr Wahlbetrug ermöglichen. Staatspräsident | |
Erdoğan signalisiert in seinen Reden zwischen den Zeilen, dass es | |
vorgezogene Wahlen geben könnte. Viele in der Türkei erwarten mittlerweile | |
frühzeitige Wahlen. | |
Das Wahlgesetz, das am 13. März vom Parlament verabschiedet wurde, stärkt | |
die Präsenz und den Einfluss von Regierungsorganisationen an den Wahlurnen. | |
Außerdem können zukünftig selbst kleinere Parteien wie die rechtsextreme | |
MHP durch die Möglichkeit, mit der AKP eine Koalition einzugehen, ins | |
Parlament einziehen – selbst, wenn sie die Zehn-Prozenthürde nicht | |
erreichen. Am Gefährlichsten ist jedoch die Passage darüber, dass nun | |
ungestempelte Stimmzettel zur Zählung zugelassen werden können. Das öffnet | |
Wahlbetrug Tor und Tür und wird zukünftig Diskussionen, wie sie nach dem | |
Referendum geführt wurden, verhindern. | |
Die unabhängige Organisation für Wahlbeobachtung Oy ve Ötesi (“Wahl und | |
mehr“) bereitet sich jetzt schon auf die Herausforderungen der kommenden | |
Wahlen vor. Seit 2014 hat der Verein sechs Wahlen beobachtet und sich für | |
deren transparente und demokratische Durchführung eingesetzt. Trotz der | |
aktuellen Entwicklungen setzt sich Oy ve Ötesi weiterhin für die Aufklärung | |
über das Wahlrecht in der Bevölkerung ein und pocht auf | |
Sicherheitsstandards. Vor dem Referendum 2017 hat die Organisation mehr als | |
90.000 Menschen zu Wahlbeobachtern geschult und mit 25.000 freiwilligen | |
Wahlbeobachter*innen das Referendum begleitet. Auch bei den kommenden | |
Wahlen wird sie als Wahlbeobachterin teilnehmen. | |
## Sollte man die Wahl boykottieren? | |
Das neue Wahlgesetz führt dazu, dass ein Teil der Bevölkerung den Glauben | |
an freie Wahlen verliert. Oppositionelle Gruppen und Parteien sind | |
überzeugt, dass die Regierung fortan jede Wahl in ihrem Sinn manipulieren | |
wird. Deshalb gibt es in der öffentlichen Meinung Stimmen, die einen | |
Wahlboykott zur Debatte stellen. Einer davon ist der Akademiker und | |
Journalist Fatih Yaşlı. In der Gesellschaft mache sich die pessimistische | |
Einstellung breit, gar nicht erst wählen zu gehen, sagt er. | |
Zumindest sollte man über einen eventuellen Boykott diskutieren, findet | |
Yaşlı: „Wenn die Diskussion in Form einer Kampagne auf die | |
gesellschaftliche Ebene getragen werden und den politischen Diskurs | |
beeinflussen würde, dann wäre ich dafür.“ | |
Befürworter*innen eines Wahlboykotts sehen den Boykott als den Anfang eines | |
Prozesses. Ihr Hauptargument ist die Sorge, dass die AKP mit dem neuen | |
Wahlgesetz die Wahlen ohnehin gewinnt. Allerdings gibt es zahlreiche | |
Kritiker*innen des Vorschlags, die denken, dass ein Wahlboykott nicht | |
effektiv sei und überdies der AKP die Arbeit erleichtere. | |
“Nach dem Wahlsieg der AKP wird niemand die Legitimität des Ergebnisses in | |
Frage stellen. Deshalb müssen wir uns auf die Gewährung der Wahlsicherheit | |
konzentrieren“, sagt der HDP-Abgeordnete Mithat Sancar. Er ist der | |
Überzeugung, dass “ein Boykott in keiner Weise dem Streben nach Demokratie | |
und Freiheit“ zugute kommen würde. Die Oppositionsparteien sind durchweg | |
der Meinung, dass ein Boykott einer Niederlage oder einem Aufgeben | |
gleichkommen würde. | |
Ismail Kansu, der aus erster Hand die Wahlmanipulation beim Referendum | |
miterlebt hat, will sich trotz allem auch bei der kommenden Wahl als | |
freiwilliger Wahlbeobachter engagieren. „Es wird härter werden, aber nicht | |
unmöglich. Das Ganze wird uns viel Kraft kosten und die Konflikte werden | |
härter. Aber wir werden alles tun, um im Spiel der Regierung um die | |
Wahlurnen nicht einfach aufzugeben.“ | |
* Name von der Redaktion geändert | |
Aus dem Türkischen von Canset Içpınar | |
6 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Erk Acarer | |
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