# taz.de -- Die Grenze zum Nichts | |
> Antonio Calderara zählt zu den Meistern subtiler Malkunst. Wer sich auf | |
> seine vermeintlich leeren Bilder einlässt, entdeckt verschiedenste | |
> Dimensionen. Das Ernst-Barlach-Haus im Hamburger Jenischpark widmet dem | |
> 1978 verstorbenen Italiener nun eine Ausstellung | |
Bild: Sperriger Titel: „Rechteckige violette Anziehung in zweifarbigerVertika… | |
Von Hajo Schiff | |
Dunstig schummert die Sonne an diesem Tag über dem Jenischpark. Sie bewirkt | |
matte Aussichten, wie manche Bilder aktuellen Ausstellung im | |
Ernst-Barlach-Haus. Bilder, die wie aus der Stimmung draußen | |
herausgeschnitten anmuten: Genauso matt und hell, vage, mit einer Ahnung | |
von etwas, was real vorstellbar oder vielleicht nur fantasiert sein könnte. | |
Das Museum bietet jedoch nicht die Weite der Landschaft, sondern nur | |
Gemälde im kleinen Format, 30 mal 30 Zentimeter. Und doch reicht das für | |
intensive Kontemplation und weite Kopfreisen, sei es ans andere Elbufer | |
oder an den Lago d’Orta in Piemont. Dort am westlichsten und unbekanntesten | |
der norditalienischen Seen lebte der bekannte italienischen Künstler | |
Antonio Calderara (1903–1978), um dessen Arbeiten es in der Ausstellung | |
geht. | |
Bekannt ist relativ, vielleicht beschränkt sich seine Bekanntheit bisher | |
auch nur auf kleine Kreise von Kennern einer extrem poetischen | |
Abstraktion.Dem Direktor Karsten Müller ist es wieder einmal gelungen, | |
einen Künstler zu finden, der zu der besonderen, eigentlich | |
monothematischen Barlach-Sammlung passt – oder in diesem Fall zumindest zu | |
der klaren modernen und lichtdurchfluteten Architektur des Hauses. | |
Wenn er die Ausstellung mit dem Etikett „Vom See-Stück zum Seh-Stück“ | |
versieht, dann ist dies kein Abstieg in die Wortspielhölle, sondern eine | |
ziemlich genaue, schön griffige Verdeutlichung des Weges der Malerei von | |
Antonio Calderara. Der Titel beschreibt die auf das Wesentliche reduzierte | |
Personen- und Landschaftsdarstellung über die fortschreitende Abstraktion | |
zur konkreten Farb-, besser noch Licht-Malerei. | |
Es fällt schwer, diese teils geradezu magischen, häufig mit „Spazio-Luce“ | |
(Licht-Raum) betitelten Bilder besser zu beschreiben, als der Künstler | |
selbst: „Ein Himmel, ein Wasser und darin der Berg, die Insel, das Ufer / | |
Die Beschränkung des Sichtbaren bis an die Grenze des Natürlichen / Das | |
Gedachte / Das Bild auf ein reines und einfaches Schema reduziert.“ | |
Doch nicht alle der rund 60 Arbeiten suchen so sehr das Geistige selbst zu | |
bannen und in letzter Konsequenz das Nichts zu malen. Erst 1959 entsteht | |
Calderaras erstes ganz nichtfigürliches Bild. In den Sechzigerjahren wird | |
Calderara auch durch die Bekanntschaft mit dem später an der Hamburger | |
Kunsthochschule lehrenden Deutsch-Brasilianer Almir Mavignier zu einem | |
wichtigen Mitglied der Bewegung der Konkreten Malerei. 1968 ist der | |
Italiener an der documenta 4 beteiligt. | |
Von der Materialität her sind die auf Holztafeln in vielen lasierenden | |
Schichten gemalten Kabinettbilder Antonio Calderaras mit Ikonen | |
vergleichbar. Vom Stil her erinnert manches mit seiner überbelichteten | |
Stille, der Selbstversunkenheit der Personen und der klaren Abgrenzung der | |
bildkonstituierenden Farbflächen an Fresken der Frührenaissance, | |
beispielsweise eines Piero della Francesca. Aber sie gleichen auch der | |
kühlen Rationalität, wie sie bei Giorgio Morandi und in Teilen der Pittura | |
Metafisica zu finden ist. Beispiele dafür sind die in jeder Hinsicht kalte, | |
ganz unwirkliche Schneelandschaft von 1932 und die streng seitlich | |
dargestellte Sitzfigur von 1956. | |
Der Weg in die reine Abstraktion ergibt sich dann aus dem Versuch, die | |
Grenzen der Wirklichkeitserfahrung darzustellen: So taucht in der | |
hellrosacremigen Monochromie wie im dichten Morgennebel bei längerer | |
Betrachtung flirrend der Umriss von San Giulio auf, der Insel im Orta-See | |
gegenüber Calderaras Wohnsitz in Vacciago. | |
Ein kleines violettes Quadrat, senkrecht von einem orangenen Streifen | |
gestützt und einem hellblauen gedrückt, fast verloren im goldenen Schnitt | |
in einer nahezu leeren Fläche positioniert, ist zwar ein reines Farbband, | |
kann aber auch als Erinnerung an einen schmalen Durchblick zwischen zwei | |
begrenzenden Architekturquadern gelesen werden. Obwohl hier äußerst sperrig | |
als „Rechteckige violette Anziehung in zweifarbiger Vertikalspannung“ | |
betitelt, ist farblich geometrische Malerei selten so sehr aus dem Erleben | |
und eben nicht aus akademischen Theorien hergeleitet. 1958 hatte Antonio | |
Calderara zwischen stark abstrahierter, aber noch deutlich erkennbarer | |
Architektur einen ähnlichen spalthaften Ausblick gemalt. | |
Vielleicht ist zu solcher erfahrener und nicht konstruierter Abstraktion | |
nicht ganz unwichtig, dass Calderara malerisch ein Autodidakt war, der nach | |
einem abgebrochenen Ingenieursstudium in Mailand erst mit 22 Jahren zu | |
malen anfing. | |
Eine vage gelbe Senkrechte in einem altweißen Feld scheint an sich kein | |
überzeugendes Bildthema zu sein, öffnet aber den Blick auf feinste Nuancen. | |
Die kleinen Bilder gewinnen – immer vorausgesetzt, man lässt sich darauf | |
ein – die viel umfangreicheren Größendimensionen einer | |
Mark-Rothko-Kathedrale. Unnötig zu erwähnen, dass derartig „leere“ Bilder | |
ganz gewiss auch eine Ausformung des Transzendenten sind, dass in der | |
Annäherung an das Nichts im Bild auch die Beschwörung des alles | |
beherrschenden Geistes zu finden ist, vielleicht, auch etwas pathetisch | |
gesagt, gar der Aufschein des Göttlichen. | |
Ausstellung bis 3. Juni, Dienstag bis Sonntag, 11 bis 18 Uhr, | |
Ernst-Barlach-Haus, Jenischpark, Baron-Voght-Straße 50a | |
13 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Hajo Schiff | |
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