# taz.de -- Die gestohlene Ausrüstung | |
> Teilnehmende Beobachtung: Jonas Carpignanos halbdokumentarischer Film | |
> „Pio“ über einen Roma-Jugendlichen in Kalabrien | |
Von Lea Wagner | |
Unter Journalisten und Filmemachern heißt es gleichermaßen: Die besten | |
Geschichten finden nicht wir. Sie finden uns. So war es auch bei Jonas | |
Carpignano. Der in der Bronx aufgewachsene US-Regisseur zog von den USA | |
nach Italien, zurück zu seinen Wurzeln. Sein Vater ist Römer, Sommer- und | |
Winterferien verbrachte die Familie jahrelang in Italien; Die Mutter stammt | |
aus Barbados und ist schwarz – warum das wichtig ist, dazu später mehr. | |
Carpignano lässt sich also nieder in Italien, erst in Rom, dann in | |
Kalabrien. 2011 wird ihm in Kalabrien seine Ausrüstung gestohlen. Er kriegt | |
einen Tipp und fährt in eine Barackensiedlung am Rande einer Kleinstadt, | |
die das Wort „Freude“ im Namen trägt – Gioia Tauro heißt sie –, obwoh… | |
in ihr recht freudlos zugeht. Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität. | |
Die Barackensiedlung trägt den Namen A Ciambra, in ihr leben knapp 300 | |
italienische Roma. Carpignano bekommt dort seine Ausrüstung wieder. Und | |
trifft auf Pio, Pio Amato, einen 14-jährigen Rom. Pio führt den Filmemacher | |
in eine fremde Welt ein. Eine, in der Kinder nicht zur Schule gehen, aber | |
schon im Grundschulalter rauchen, saufen, Polizeiwagen stehlen und Auto | |
fahren. In der Verwandte im Knast sitzen, Prostituierte Freunde sind und | |
die Mutter abends das von den Kindern erbeutete Geld einsammelt. | |
Pio nimmt Carpignano mit zu seiner Familie. Lädt ihn regelmäßig zu sich zum | |
Abendessen ein. Auf Taufen und Geburtstage. Carpignano ist fasziniert und | |
beschließt, einen Film zu drehen. Quasi dokumentarisch, wenn auch mit | |
fiktivem Plot. Aber mit Pio und seiner Familie als Darstellern – allesamt | |
Laien. Martin Scorsese ist begeistert und produziert den Film. | |
Begeistert sind nicht alle. Es gibt Kritiker, die finden den Film | |
rassistisch. Weil er Stereotype bediene und nur eine Geschichte | |
herauspicke. Ein Journalistenteam soll sich auf den Weg gemacht haben nach | |
A Ciambra, um ein vollständigeres Bild einzufangen, berichtet die Zeitung | |
Il Fatto Quotidiano. | |
Das war nie der Anspruch von Carpignano. Und Pios Familie scheint nicht | |
unzufrieden mit dem Ergebnis. Carpignano durchzechte gerade mit ihnen die | |
Nacht, als ein Anruf aus Amerika kam: Der Film sei für den Oscar nominiert. | |
Gewonnen hat er ihn nicht. Einige werfen ihm eine zu dünne und schlecht | |
konzipierte Handlung vor. Streckenweise passiert recht wenig – Alltag eben. | |
Gezeigt werden Tage im Leben von Pio, halb Krimineller, halb Kind – ein | |
Kind, das bei einem Mafia-Boss einbricht, aber vorm Zugfahren Angst hat, | |
„weil Züge so schnell fahren“. Pio, wie er sich zum ersten Mal verliebt, zu | |
einer Prostituierten geht und ein Auto knackt. Zum ersten Mal high ist. Und | |
zum ersten Mal so wirklich auf der Straße steht, nachdem ihn der Clan | |
verstoßen hat. | |
Was „Pio“ – italienischer Originaltitel „A Ciambra“ – etwas anstren… | |
macht, ist, dass viele Sequenzen mit einer Handkamera gefilmt wurden. Die | |
Bilder sind oft verwackelt oder zu dunkel – aber eben auch realistisch. | |
Manche sehen in Carpignano den Wiederbegründer des Neorealismo. | |
„Pio“ ist Teil zwei einer Trilogie. Der erste Teil, „Mediterranea“, erz… | |
die Geschichte von zwei Einwanderern aus Burkina Faso und einer Community | |
von Schwarzafrikanern im kalabrischen Rosarno, wo sie Teil eines (2010 | |
wirklich so geschehenen) rassistischen Angriffs werden. | |
Carpignano sagt in einem Zeitungsinterview, von klein auf interessiere ihn | |
die Frage, welche Rolle Schwarze in Italien spielen: „In jeden Ferien, die | |
wir in Italien verbrachten, fiel mir auf, dass meine Mutter die einzige | |
Schwarze in unserem gesamten Mittelschicht-Umfeld war.“ | |
Mit seiner Trilogie will er „das echte Italien“ abbilden: eine | |
Gesellschaft, die deutlich heterogener ist „als im italienischen Kino | |
bislang dargestellt“. | |
Wir sind gespannt auf den dritten Teil. | |
„Pio“. Regie: Jonas Carpignano. Mit Pio Amato, Koudous Seihon u. a. Italien | |
2017, 118 Min. | |
4 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Lea Wagner | |
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