# taz.de -- „In einem Übergangswohnheim lernt man nicht das normale Wohnen“ | |
> „Housing First“ ist die Idee, dass Obdachlose zunächst eine eigene | |
> Wohnung brauchen – eine, die sie sich nicht erst verdienen müssen. | |
> Anderswo funktioniert das sehr gut, hat der Sozialwissenschaftler Volker | |
> Busch-Geertsema erforscht | |
Bild: Ein Schritt in die richtige Richtung: zwar keine Wohnung, aber doch ein e… | |
Interview Jan Zier | |
taz: Herr Busch-Geertsema, glauben Sie, dass sich mit dem Konzept „Housing | |
First“ das Problem der Obdachlosigkeit lösen lässt? | |
Volker Busch-Geertsema: Ganz bestimmt nicht alleine! | |
Aber Housing First ist besser als die bisherige Strategie? | |
Es ist vor allem ein Gegenentwurf zu dem vielerorts vorherrschenden | |
Stufenmodell. Das basiert auf der Idee, dass Wohnungslose zunächst | |
„wohnfähig“ gemacht werden müssen: Durch Abstinenz, Teilnahme an Maßnahm… | |
und Wohlverhalten in Einrichtungen sollen sich die Betroffenen den Zugang | |
zu regulären Wohnungen erst einmal verdienen. | |
Und bei Housing First? | |
Housing First bringt die Wohnungslosen im ersten Schritt gleich in eigenen, | |
dauerhaften Wohnraum und bietet dann wohnbegleitende Hilfen von erheblicher | |
Intensität an. Das Konzept wendet sich überwiegend an Menschen mit | |
komplexen Problemlagen und akzeptiert erst mal Suchtmittelkonsum oder | |
psychische Probleme. Es setzt darauf, Wohnungslosigkeit tatsächlich zu | |
beenden und nicht nur langfristig zu verwalten. | |
Was ist falsch an dem vorherrschenden Konzept? | |
Das Problem bei dem traditionellen Ansatz ist, dass sehr viele daran | |
scheitern. Aus der Aufstiegsleiter der Integration wird viel zu oft eine | |
Rutsche in die Ausgrenzung. Sobald sich die Menschen etwas stabilisiert | |
haben, müssen sie auch schon wieder umziehen, um die nächste Stufe zu | |
erklimmen. Viele Klienten verbleiben so über Jahre hinweg im System. Und | |
genauso wie man Rad fahren am besten lernt, wenn man ein Rad hat, kann man | |
das normale Wohnen am besten lernen – sofern das überhaupt notwendig ist – | |
wenn man mit den normalen Herausforderungen des Wohnens konfrontiert ist. | |
In einem Übergangswohnheim lernt man vieles, aber nicht das normale Wohnen. | |
Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es dazu, ob die Idee von | |
Housing First in der Praxis funktioniert? | |
In den vergangenen Dekaden sind in den USA mehrere Studien mit | |
kontrollierten Zufallsexperimenten durchgeführt worden. Schon in der | |
allerersten Studie in New York wurde festgestellt, dass nach zwei Jahren 80 | |
Prozent der Housing-First-Teilnehmer dauerhaft in eigenem Wohnraum lebten, | |
aber nur 30 Prozent der Kontrollgruppe aus dem gängigen Hilfesystem. In die | |
weltweit größte einschlägige Studie wurden in Kanada über zwei Jahre hinweg | |
mehr als 2.000 langzeitwohnungslose Menschen mit psychischen Erkrankungen | |
einbezogen. Unter den 1.200 Housing-First-Teilnehmern wohnten am Ende | |
städteübergreifend im Schnitt über 72 Prozent in gesicherten | |
Mietverhältnissen, in der Kontrollgruppe waren es nur 32 Prozent. | |
Kann man das so einfach auf Europa übertragen? | |
Ich selbst habe eine Studie koordiniert, die in vier von fünf | |
Projektstandorten – Amsterdam, Glasgow, Kopenhagen und Lissabon – extrem | |
hohe Wohnungserhaltquoten erbrachte. Inzwischen ist die Liste der | |
wissenschaftlichen Belege über die positiven Ergebnisse von | |
Housing-First-Projekten in Europa sehr lang, zumindest was den | |
Wohnungserhalt angeht. Das heißt aber nicht, dass die Menschen auch in | |
kürzester Zeit abstinent leben oder keine psychischen Probleme mehr haben. | |
Dass jemand suchtkrank ist, heißt aber nicht, dass er nicht in einer | |
normalen Wohnung zurechtkommen kann. | |
Angesichts der Studien stellt sich die Frage, warum man anderswo in der | |
Welt so viel weiter ist als in Deutschland. | |
Ein zentrales Problem ist der Zugang zu bezahlbarem Wohnraum. Da muss mehr | |
gemacht werden, sowohl auf politischer Ebene als auch bei den Trägern der | |
Wohnungslosenhilfe selbst. Die dürfen nicht nur Wohnungen besorgen, in | |
denen Leute vorübergehend betreut, dann aber wieder entlassen werden. Sie | |
müssen auch dafür sorgen, dass Leute dauerhaften Wohnraum bekommen. Es gibt | |
zu wenig günstigen Wohnraum, gerade kleine Wohnungen fehlen und es gibt das | |
Problem, dass Vermieter bei Wohnungslosen oder Menschen mit Schulden | |
besonders kritisch sind. Früher hatten die Kommunen hier mehr Instrumente | |
und Möglichkeiten. In Finnland oder Dänemark gibt es dagegen einen klaren | |
politischen Willen, Wohnungslosigkeit zu verringern. | |
Und der fehlt hier? | |
An dem muss man jedenfalls noch reichlich arbeiten. Hierzulande hält sich | |
die Idee, dass die Menschen für das Wohnen erst fit gemacht werden müssen, | |
noch sehr hartnäckig. Und die legitimen finanziellen Interessen der | |
Einrichtungsbetreiber begründen auch Skepsis. Die halten Sozialarbeit vor, | |
um Leute zu betreuen – und wenn sie davon abhängig ist, dass die Menschen | |
dauerhaften Wohnraum bekommen, dann müssen sie jedes Mal neue Wohnungen | |
suchen, um ihre Klienten betreuen zu können. Das empfinden die Träger als | |
Zumutung. | |
Bei den Wohlfahrtsverbänden stößt die Idee von Housing First immer wieder | |
auf Kritik. | |
Zum einen sehen sie oft nicht das Potenzial, das Housing First bietet – da | |
gibt es ja auch Bedarf an intensiven wohnbegleitenden Hilfen. Und sie sehen | |
auch oft nicht das Potenzial, das in der Prävention von Wohnungslosigkeit | |
liegt, wo Sozialarbeit sehr viel mehr gefragt wäre. Verbandsvertreter | |
behaupten auch: Das machen wir doch schon seit vielen Jahren! Da wird zu | |
wenig die Praxis berücksichtigt, die wirklich anders ist als im Konzept von | |
Housing First. Das bestehende System ist relativ schwerfällig zu ändern. Es | |
gibt aber auch bei freien Trägern ein wachsendes Interesse, das umzusetzen. | |
Und für sie ist es ja immer noch deutlich einfacher, an billigen Wohnraum | |
zu kommen als für wohnungslose Menschen | |
Bei Housing First ist die Hilfe für die Betroffenen ja freiwillig. Kann das | |
gut gehen? | |
Eine funktionierende Dienstleistung kann immer nur gut gehen, wenn es eine | |
Koproduktion ist. Und dass Betroffene etwa die Wohnungstüre nicht | |
aufmachen, ist nach meinen Erkenntnissen ausgesprochen selten. Das liegt | |
auch daran, dass Housing First sehr intensiv an den individuellen Wünschen | |
und Zielen ansetzt – und nicht an irgendwelchen Auflagen. Die Allermeisten, | |
das zeigt die Erfahrung, nehmen nachdrücklich angebotene Hilfen an, wenn | |
die auf ihre Bedürfnisse abgestimmt sind. | |
Ist Housing First auf einem Wohnungsmarkt wie dem in Hamburg nicht eine | |
Illusion? | |
Die Notunterbringung in Hamburg ist auch extrem teuer und sehr schwierig! | |
Dasselbe gilt für die Schaffung neuer Gemeinschaftsunterkünfte. Neuerdings | |
wird diskutiert, Container, die für Flüchtlinge vorgesehen waren, nun in | |
Notunterkünfte für Wohnungslose umzuwandeln. Das ist ein Rückschritt! In | |
Bremen kommt das von einer Regierung, die im Koalitionsvertrag vereinbart | |
hat, aufsuchende präventive Hilfen auszubauen und den Zugang von | |
Wohnungslosen zu normalem Wohnraum zu verbessern. Das hat sie nicht | |
umgesetzt, das sollte aber weiter das Ziel sein und das ist auch möglich. | |
In den letzten Jahren wurde vor allem für zahlungskräftige Familien gebaut. | |
Brauchen wir also erst mal mehr Sozialwohnungen? | |
Mit einer allgemeinen Ausweitung des Bestandes selbst an Sozialwohnungen | |
ist es nicht getan. Für diesen besonders benachteiligten Personenenkreis | |
braucht man privilegierte Zugänge zu leistbarem Wohnraum, mehr kleine | |
Wohnungen und auch wieder Belegungsrechte. Sie haben sonst in der | |
Konkurrenz keine Chancen. | |
Das gilt erst recht für die obdachlosen EU-Ausländer, oder? | |
Bei den wohnungslosen Bulgaren oder Rumänen wird ja in der Praxis noch | |
nicht einmal anerkannt, dass die Kommunen ihnen gegenüber eine | |
Unterbringungsverpflichtung haben. Und sie sind auch von gesetzlichen | |
Ansprüchen auf Miete und Lebensunterhalt ausgeschlossen. Das ist ein | |
Problem, das in vielen Ländern besteht. Man darf aber auch die öffentliche | |
Aufmerksamkeit für diese Gruppe nicht mit ihrer zahlenmäßigen Bedeutsamkeit | |
verwechseln. Die Mehrheit der Wohnungslosen ist nicht aus der EU | |
zugewandert. | |
In Bremen gibt es immerhin eine 25-prozentige Sozialwohnungsquote für neue | |
Wohnungen. | |
Das ist prinzipiell eine gute Maßnahme, aber der Kreis der Berechtigten ist | |
sehr groß. Seit 2012 haben wir hier 400 neue Sozialwohnungen bekommen. | |
Davon sollten 20 Prozent an wohnungslose Menschen gehen, Deutsche wie | |
Geflüchtete, also höchstens 80 Wohnungen. Der wesentliche Beitrag zur | |
Problemlösung muss aus dem Wohnungsbestand kommen. Hinzu kommt, dass | |
Sozialwohnungen ganz oft für Familien gebaut werden – der größte Bedarf | |
besteht aber bei Singlewohnungen. Daneben fehlen sehr große Wohnungen für | |
Menschen mit vielen Kindern. | |
Besteht nicht die Gefahr, dass da neue Gettos entstehen? | |
Ein Haus mit zwölf Wohneinheiten etwa ist noch kein furchtbares Getto. Wir | |
haben verschiedene Projekte untersucht, auch in Deutschland: Da war mit | |
einem Haus in dieser Größenordnung und begleitenden Hilfen ganz normales | |
Wohnen möglich. | |
Aber wer will zuvor Wohnungslose als Nachbarn haben? | |
Im Rahmen der Modellprojekte gab es auch solche, bei denen die | |
Schwierigkeiten mit den Nachbarn sehr genau untersucht wurden. Da gab es | |
gelegentlich Probleme, aber weniger als erwartet. In den allermeisten | |
Fällen konnten die Konflikte gelöst werden. | |
Wenn die Kommunen glauben, mit Housing First billiger wegzukommen, sparen | |
sie am Ende doch bei den freien Trägern. | |
Das ist kein Billigmodell! Housing First ist ein Beispiel, wie man mit | |
demselben Geld sehr viel bessere Resultate erzielen kann als mit dem | |
bestehenden Stufenmodell. Denn das scheitert mit seinen relativ hohen | |
Anforderungen immer wieder – „Abstürze“ sind nicht selten, zu viele | |
Betroffene gehen in diesem System verloren. | |
Kritiker halten Housing First aber für eine Form von „betreutem Trinken“. | |
Es gibt Millionen von Alkoholikern und psychisch kranken Menschen – die | |
Mehrheit unter ihnen lebt in normalen Wohnungen. Daneben gibt es eine | |
kleine Minderheit, die im Geschosswohnungsbau nicht besonders gut klar | |
kommt. In Dänemark gibt es deshalb seit Langem ein staatliches Programm | |
„Schräge Wohnungen für schräge Existenzen“, bei dem Hausboote oder kleine | |
Holzhaus-Siedlungen gefördert werden. Das kann Sinn machen – aber die | |
meisten Wohnungslosen wollen ganz normale Wohnungen und sind auch in der | |
Lage, die zu halten und zurechtzukommen. | |
Wie viele sind es nicht? | |
Nur etwa zehn bis 20 Prozent der Betroffenen – das zeigen alle Evaluationen | |
– kommen nicht allein zurecht. Da muss man über andere Hilfeformen | |
nachdenken. Nur muss man die Proportionen umkehren: Einrichtungen sollten | |
die absolute Ausnahme sein. | |
24 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Jan Zier | |
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