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# taz.de -- „Die Leute werden verwahrt“
> Der Bremer Rechtsanwalt Anatol Anuschewski vertritt zahlreiche junge
> Flüchtlinge, die dagegen klagen, als volljährig behandelt zu werden. Der
> grünen Sozialsenatorin wirft er eine Politik der Abschreckung vor
Bild: Behelfsbauten in der Gottlieb-Daimler-Straße: Hier leben junge Geflücht…
Interview Jean-Philipp Baeck
taz: Herr Anuschewski, Sie streiten regelmäßig mit dem Jugendamt um die
Altersfeststellung bei minderjährigen Flüchtlingen. Würden Sie sagen, der
Wind dreht sich zu Ihren Gunsten?
Anatol Anuschewski: Zumindest sieht das Bremer Verwaltungsgericht wie auch
das Oberverwaltungsgericht die Praxis der Altersfeststellung durch das
Jugendamt immer öfter kritisch. Allein in den letzten zwei Wochen hat ein
Gericht in zwei von dreien meiner Fälle entschieden, dass die
Altersfeststellung nicht rechtens war.
Was sind das für Fälle?
Ein Jugendlicher etwa kommt aus Gambia. Er hat seine Eltern verloren. Als
er hierher kam, war er extrem psychisch belastet. Das hat auch das
Jugendamt festgestellt und geschrieben, dass ein Gespräch mit ihm zur
Altersfeststellung kaum möglich war. Trotzdem wurde er für volljährig
geschätzt, weil er widersprüchliche Angaben zu seiner Lebensgeschichte
gemacht haben soll. Er war dann rund fünf Monate in der
Flüchtlingsunterkunft in der Gottlieb-Daimler-Straße. Das
Oberverwaltungsgericht hat nun geurteilt, dass er in Obhut genommen und im
weiteren Verfahren als minderjährig behandelt werden muss. Er ist 16 Jahre
alt und sehr wissbegierig. Er geht jetzt endlich zu Schule.
Was kritisieren Sie an der Situation in der Gottlieb-Daimler-Straße?
Vieles. Einerseits ist die Flüchtlingsunterkunft in der
Gottlieb-Daimler-Straße meines Wissens der letzte Behelfsbau in Bremen. Es
sind Blechwände mit einem Zeltdach obendrüber, bei Kälte mit einer
dröhnenden Lüftung und innen mit Trennwänden, die nach oben offen sind,
also keine Privatsphäre zulassen. Die Leute werden in einem Industriegebiet
verwahrt.
Und andererseits?
Andererseits werden dort vor allem junge Leute gesammelt, die als
unbegleitete Minderjährige in Obhut genommen werden wollen, die das Bremer
Jugendamt aber für volljährig hält.
Was bedeutet der Unterschied in der Praxis?
Minderjährige würden in einer Jugendhilfeeinrichtung von Sozialpädagogen
betreut, würden zur Schule gehen und Deutschkurse bekommen. Nach
vierjährigem, erfolgreichem Schulbesuch eröffnet sich durch einen Erlass
von SPD-Innensenator Ulrich Mäurer eine Bleibeperspektive. Stattdessen
sitzen aber die jungen Leute teilweise bis zu neun Monate in der
Gottlieb-Daimler-Straße herum und haben nichts zu tun. Man kann zusehen,
wie es ihnen Woche für Woche schlechter geht.
Geht Bremen schlechter mit den jungen Leuten um als andere Bundesländer?
Der Umgang des Bremer Jugendamtes mit den Jugendlichen ist nach unseren
Erfahrungen im bundesdeutschen Vergleich eher repressiv. Bremen hat in den
Jahren 2015/2016 begonnen, eigene Unterkünfte speziell für abgelehnte
Jugendliche einzurichten. Zunächst im Bayernzelt, auf einem Parkplatz an
der Neuenlander Straße, nun in der Gottlieb-Daimler-Straße. Das heißt: Der
Zustand dieser Provisorien wärt nun schon seit Jahren. Diese Gruppe nicht
besser unterzubringen ist eine reine Abschreckungspolitik, um ihnen das
Leben so unbequem wie möglich zu machen.
Sie werfen dem grünen Sozialressort eine Abschreckungspolitik gegen junge
Flüchtlinge vor.
Ja. Bremen war 2015 eine der Städte, wo relativ viele Jugendliche eine
Inobhutnahme beantragt haben. Das hat sich damals auf bestimmte Städte
konzentriert. Darauf ist aber reagiert worden, indem eine Umverteilung der
Jugendlichen auf andere Bundesländer rechtlich möglich gemacht wurde, um
alle Jugendämter bundesweit gleichermaßen auszulasten. Die Bremer Praxis
setzt aber davor an, indem das Sozialressort an vielen Stellen auf
willkürliche Art bestimmte Leute per Altersfeststellung aussiebt – und eben
damit vielen Minderjährigen ihr Recht auf Jugendhilfe versagt.
Die grüne Sozialsenatorin Anja Stahmann argumentiert, dass, wer Schutz in
Deutschland haben möchte, auch Asyl beantragen muss. Diejenigen, die in der
Gottlieb-Daimler-Straße untergebracht sind, machen das aber nicht. Warum
nicht ?
Als Minderjähriger kann man allein kein Asyl beantragen. Ein unbegleiteter
unter 18-Jähriger braucht dafür einen Vormund. Die Jugendlichen müssten
über ihr Alter lügen, um einen Asylantrag zu stellen. Unbegleitete
Minderjährige haben nach der Dublin-Verordnung ein Recht darauf, fachlich
qualitativ beraten zu werden, ob sie einen Asylantrag stellen. Viele
Jugendliche aus Ländern mit einer hohen Anerkennungsquote stellen in der
Inobhutnahme einen Asylantrag. Es gibt aber Länder wie etwa Guinea und
Gambia, wo eine politische Verfolgung selten anerkannt wird und man aus
fachlicher Perspektive abraten muss, Asyl zu beantragen. Diesen
Jugendlichen muss man stattdessen zu ihrem Recht verhelfen, das sie als
Minderjährige haben. Deshalb dreht sich so viel um die Altersfeststellung.
Was kritisieren Sie daran konkret?
Für die Alterseinschätzungen führen zwei Sozialpädagogen vom Jugendamt mit
den Leuten ein Gespräch und kommen dann oft zu dem Ergebnis, dass derjenige
volljährig ist. Diese Praxis ist skandalös, weil haufenweise junge Leute
aus der Jugendhilfe rausgeworfen werden, bei denen Richter dies im
Nachhinein für rechtswidrig halten.
Aus dem Sozialressort heißt es, für die Altersfeststellung würden sehr
erfahrene MitarbeiterInnen eingesetzt. Als Alternative zu diesem Verfahren
wird diskutiert, junge Flüchtlinge flächendeckend zu röntgen. Wäre das
besser für die Jugendlichen?
Das Problem ist: Alle diese Methoden, sowohl das Interview als auch das
Röntgen, können nie ein exaktes Alter bestimmen. Wer sein Leben lang als
Kind körperlich gearbeitet hat, hat mit 16 Jahren andere Hände als ein
westeuropäischer Jugendlicher im gleichen Alter. Es geht immer um eine
Altersspanne, einen Graubereich von zwei, drei Jahren. Nur macht es eben
rechtlich einen großen Unterschied, ob ich 16 oder 19 Jahre alt bin. Aber
sowohl das Bremer Jugendamt behauptet, mit seinen Interviews genauer zu
sein, als auch das Hamburger Institut für Rechtsmedizin, das den Kiefer
röntgt.
Das Institut hat sich unter Leitung von Rechtsmediziner Klaus Püschel
darauf spezialisiert, obwohl die Bundesärztekammer eine Beteiligung von
Ärzten an der Altersfeststellung von Flüchtlingen ablehnt.
Ja. Allerdings wendet das Institut Methoden aus der Pathologie an, die an
westeuropäischen Probanden getestet wurden. Alle Forschungsstudien dazu
sagen, dass die Ergebnisse von Kiefer-Untersuchungen kaum auf Populationen
außerhalb Europas übertragbar sind, weil die Zahnentwicklung in
verschiedenen Ecken der Welt unterschiedlich schnell geht. Das Hamburger
Institut für Rechtsmedizin übergeht die Einwände aus den Studien in ihren
Gutachten und das Bremer Jugendamt bezieht sich dennoch darauf.
Wie könnte es anders gehen?
Man sollte anerkennen, dass man nicht völlig exakt wissen kann, wie alt die
Leute sind und deshalb im Zweifel für die Minderjährigkeit entscheiden.
Damit gibt man ihnen die Chance auf Schulbildung und eine Perspektive.
Ihre Kanzlei betreut sehr viele der jungen Leute aus der
Gottlieb-Daimler-Straße. Wie kommt das?
2015 hat das Bremer Jugendamt angefangen, die Inobhutnahme im großen Stil
abzulehnen und die Praxis der Altersfeststellung zu verschärfen. Mit
einigen anderen Anwälten hatten wir die ersten Verfahren, die dem
widersprochen haben. Das hat sich herumgesprochen, seitdem machen wir das
kontinuierlich.
In der Sozialbehörde kursiert der Vorwurf, Ihre Kanzlei würde sich auf dem
Rücken der jugendlichen Mandanten bereichern oder zumindest eine eigene
Agenda verfolgen. Was sagen Sie dazu?
Die Jugendlichen haben alle kein Geld. Wir verlieren auch Prozesse und dann
verdienen wir nichts. Es sind anstrengende Verfahren, die Jugendlichen sind
sehr verzweifelt. Was uns antreibt, ist der Umgang des Jugendamts mit den
Jugendlichen – eine moralische Frage. Wir empfinden eine Ungerechtigkeit
und haben uns entschieden, die Leute dabei zu unterstützen, sich dagegen zu
wehren.
17 Mar 2018
## AUTOREN
Jean-Philipp Baeck
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