# taz.de -- Altan-Brüder und Nazlı Ilıcak: “Die Justiz wird aufwachen“ | |
> Zwei Stunden nach Deniz Yücels Freilassung wurden drei Jornalist*innen | |
> von einem Gericht in Silivri zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt. | |
Bild: “Ich bin bereit im Gefängnis zu sterben, Sie auch?“ | |
Ahmet Altan trägt am letzten Verhandlungstag ein weißes Hemd. Gleich in der | |
ersten Reihe sitzt der Journalist in dem für die Angeklagten abgetrennten | |
Bereich. Unter den fünf anderen Angeklagten befinden sich auch die in der | |
Türkei rennomierten Journalist*innen Mehmet Altan ud Nazlı Ilıcak. Der | |
Gerichtssaal ist fast leer. Angehörige, internationale Beobachter und | |
Journalist*innen, die keine Akkreditierung vom türkischen Ministerpräsidium | |
besitzen, wurden aus der Verhandlung ausgeschlossen. | |
Die Urteilsverkündung verfolgen dir Journalist*innen auf einem | |
Übertragungsbildschirm im Pressezimmer. Altan lehnt mit einem Arm auf dem | |
Geländer seines Sitzbereichs und trinkt immer wieder einen Schluck Wasser | |
aus einer kleinen Flasche, die er in seiner Hand hält. Der Journalist, der | |
während seiner Verteidigungsrede den Richter fragt: “Ich bin bereit im | |
Gefängnis zu sterben, Sie auch?“, wirkt bei der Urteilsverkündung gelassen. | |
Erschwerte lebenslange Haft. So lautet das Urteil am Freitag, das im | |
Gerichtssaal gegenüber dem Silivri Gefängnis in Istanbul verlesen wird. Die | |
sechs Journalist*innen auf der Anklagebank sind von der Staatsanwaltschaft | |
wegen des Vorwurfs der Beteiligung am Putschversuch vom 15. Juni 2016 | |
angeklagt worden. | |
Das Urteil übersteigt selbst die pessimistischen Erwartungen. Dem Gericht | |
zufolge sollen die Journalist*innen Ahmet Altan, Mehmet Altan und Nazli | |
Ilicak, sowie der Marketing-Direktor der inzwischen geschlossenen | |
Tageszeitung Zaman, Yakup Simsek, der Graphiker der Zaman, Fevzi Yazici und | |
Şükrü Tuğrul Özşengül, Dozent einer Polizeiakademie, den Rest ihres Lebe… | |
hinter Gittern verbringen. Und das unter sehr erschwerten Umständen. | |
## Keine Strafmilderung wegen „schlechten Benehmens“ | |
Ebenfalls angeklagt im selben Prozess war auch Tibet Şanlıman, Besitzer | |
einer Werbeagentur. Anders als die fünf Verurteilten saß er nicht bis zum | |
Prozess in Untersuchungshaft und wurde zudem freigesprochen. Die | |
Journalist*innen hingegen wurden schließlich wegen “des Versuchs ,die | |
Verfassung abzuschaffen und die Regierung zu stürzen“, also Beteiligung am | |
Putschversuch, verurteilt. | |
Das Gericht entschied sich aufgrund “schlechten Benehmens“ der Angeklagten | |
gegen eine Strafmilderung. Erschwerte lebenslange Haft, die in der Türkei | |
anstelle der Todesstrafe verhängt wird, bedeutet Einzelhaft mit täglich nur | |
einer Stunde Freigang. Bei guter Führung wird ein beschränkter Kontakt zu | |
anderen Insassen gestattet. Besuch darf nur von Verwandten ersten Grades | |
empfangen werden, alle 15 Tage für eine Stunde. | |
Während bei lebenslanger Haft nach 24 Jahren eine bedingte Haftentlassung | |
möglich ist, ist dies bei der erschwerten lebenslangen Haft erst nach 30 | |
Jahren zugelassen. Auch die Isolationsbedingungen sind anders: Bei einer | |
nicht erschwerten lebenslangen Haft können mehrere Strafgefangenen | |
zusammengelegt werden, auch können diese jenseits von Verwandten ersten | |
Grades bis zu drei weitere Personen auf ihre Besucherliste setzen lassen, | |
die sie wöchentlich sehen dürfen. | |
Figen Albuga Çalıkuşu, Anwältin der Altan-Brüder, sagte der taz.gazete mit | |
Nachdruck, dass sich ihre Madanten in keiner Weise respektlos dem Gericht | |
gegenüber verhalten haben. Dass eine Strafmilderung vom Gericht mit dieser | |
Argumentation abgelehnt wurde, betrachtet die Anwältin als | |
“Feindstrafrecht“. “So etwas gibt es nicht in einem Rechtsstaat, aber in | |
der Feindschaft“, kommentiert Çalıkuşu das Urteil. (Der Begriff wurde 1985 | |
vom deutschen Strafrechtler und Rechtsphilosophen Günther Jakobs | |
vorgeschlagen und ist höchst umstritten. Er postuliert, dass Gruppen von | |
Menschen Bürgerrechte abgesprochen werden und diese als “Feinde des | |
Staates“ einer anderen Rechtsprechung unterliegen, bei der alle zur | |
Verfügung stehen Mittel erlaubt sind. Die Nazis praktizierten ein | |
“Feindstrafrecht“. Demokratische Staaten lehnen die Bezeichnung ab, | |
Anm.d.Red.). | |
## Angebliche Aussagen in TV-Sendung | |
Ahmet und Mehmet Altan wurden am 19. September 2016 in Gewahrsam genommen. | |
Begründung: Sie hätten bei einer TV-Sendung, in der sie vor dem | |
Putschversuch zu Gast waren, “unterschwellige pro-Putsch“-Aussagen gemacht. | |
Ein Jahr nach dem Einspruch gegen die Inhaftierung hat das oberste | |
Verfassungsgericht (AYM) am 14. Januar 2018 darüber entschieden, die lange | |
Untersuchungshaft von anderthalb Jahren sei ein Rechtsverstoß. In seinem | |
Urteil verfügte das Verfassungsgericht, dass die gegen Mehmet Altan | |
vorliegenden Beweise – zwei seiner Kolumnen, eine TV-Talksendung, eine | |
Ein-Dollar-Note sowie ein Konto bei der Bank Asya (gilt der türkischen | |
Regierung als Beleg für die Mitgliedschaft im Netzwerk des Predigers | |
Fethullah Gülen, Anm. d. Red.) – für eine Inhaftierung nicht ausreichten. | |
Die untergeordnete Strafkammer beugte sich sechs Mal nicht dem Urteil des | |
Verfassungsgerichts, das für sie verbindlich ist, und ließ die Journalisten | |
nicht frei. | |
In der letzten Verhandlungswoche zwischen dem 12. und 16. Februar zeigte | |
sich Mehmet Altan in seiner Verteidigungsrede verbittert: “Das unwürdigste | |
an meiner Position als Opfer der Justiz ist, dass ich mich zu haltlosen | |
Vorwürfen, die keine Straftat darstellen, äußern muss.“ Nach diesen Worten | |
musste er folgende richterliche Frage ertragen: “Aber Sie haben doch das | |
Buch “Darbelerin Ekonomisi“ (Die Ökonomie der Putsche) geschrieben. Warum | |
konnten Sie dann den Putschversuch vom 15. Juli 2016 nicht voraussehen?“ | |
Altans notgedrungene Erklärung lautete: “Ich bin kein Politiker, sondern | |
Professor. Dieses Buch war eine theoretische Analyse über den Zusammenhang | |
zwischen Putschen und der Ökonomie der Länder, in denen sie stattfinden.“ | |
Ahmet Altan wies die Mittäterschaft am Putsch in seiner Verteidigung als | |
bare Lüge zurück. Seiner Akte könne man doch entnehmen, dass er mit | |
Alaattin Kaya in den letzten 10 Jahren nur zwei Mal telefoniert habe. | |
Alaattin Kaya war hoher Funktionär innerhalb des Gülen-Netzwerks, der | |
Anklageschrift zufolge habe er sich “sehr sehr oft“ mit Altan getroffen. | |
“In der Türkei betrachtet die Justiz und die regierungsnahe | |
Medienlandschaft die Bestrafung der Andersdenkenden als Gerechtigkeit. Und | |
die anderen, das sind wir, alle, die sich in Opposition zur AKP stellen.“ | |
Die Beweise stammen laut Anklageschrift noch aus der Zeit, als Ahmet Altan | |
Chefredakteur der linksliberalen, inzwischen eingestellten Zeitung Taraf | |
war: einige Artikel, drei seiner Kolumnen, Aussagen, die er in einer | |
TV-Sendung machte, Abhörprotokolle von Telefonaten und und Zeugenaussagen. | |
## Ist die BBC etwa auch schuldig? | |
Die 73-Jährige Kolumnistin Nazlı Ilıcak wies die Vorwürfe in ihrer | |
Verteidigung ebenfalls zurück. Hierzu zählte ein Interview, das sie 2015 im | |
sogenannten Ergenekon-Verfahren mit dem Sonderankläger Zekeriya Öz führte. | |
“Zu dieser Zeit war er noch kein Mitglied einer Terrororganisation, (Öz | |
wird verdächtigt, Mitglied des Gülen-Netzwerks zu sein und befindet sich | |
seitdem auf der Flucht, Anm. d. Red.). Im gleichen Zeitraum hat ihn auch | |
die BBC interviewt. Hat etwa auch die BBC versucht, ihn zu entlasten?“ | |
fragte sie in ihrer Verteidigungsrede vor Gericht. Ilıcak hatte zuvor in | |
der Verhandlung angemerkt, dass sie erst nach dem Putschversuch am 15. Juli | |
2016 erfahren habe, dass FETÖ, eine von der türkischen Regierung genutzte | |
Bezeichnung für das Gülen-Netzwerk – als Terrororganisation gilt. | |
Am gleichen Verhandlungstag wiesen Yakup Şimşek und Fevzi Yazıcı, | |
Mitarbeiter der 2016 geschlossenen Tageszeitung Zaman, die als Medienorgan | |
der Gülen-Bewegung galt, die Vorwürfe von sich. Die Staatsanwaltschaft legt | |
ihnen einen Werbefilm der Zeitung zur Last, der am 5. Oktober 2015 erstmals | |
erschien und auf einen möglichen Putsch hindeutete. Ebenfalls angeklagt war | |
Tuğrul Özşengül, dem seine Aussagen in einer Fernsehsendung in der Nacht | |
des Putschversuchs vorgeworfen wurden. Auch er wies die Vorwürfe des | |
Staatsanwalts zurück. | |
## Feindseligkeit stärkt den Widerstand | |
Zur Urteilsverkündung in Silivri wurden weder Abgeordnete noch die | |
Vertreter ausländischer Botschaften zugelassen. Aus der Türkei und aus dem | |
Ausland waren nur wenige Beobachter vor Ort: aus der Türkei die | |
Nachrichtenplattform P24 sowie internationale Vertreter von Reporter ohne | |
Grenzen und die NGO Article 19. Die mediale Aufmerksamkeit war dafür umso | |
wuchtiger. Nach dem Urteil werteten internationale | |
Menschenrechtsorganisationen dieses Urteil als einen Schlag gegen die | |
Pressefreiheit. | |
“Die Justiz wird aufwachen“, sagte die Anwältin Figen Çalıkuşu nach der | |
Urteilsverkündung und kündigte an, in Revision zu gehen. Die Anwälte der | |
Altan-Brüder erwarten vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einen | |
baldigen Urteilsspruch. Ahmet und Mehmet Altan hätten sich angesichts | |
dieser tiefen Feindseligkeit schockiert gezeigt, hätten aber den Willen, | |
weiterzumachen. “Diese Feindseligkeit verstärke aber“, so glauben die | |
Altans laut der Anwältin, “dass der Kampf um Gerechtigkeit, Demokratie und | |
und ein faires Verfahren international mehr Anerkennung erfährt. | |
Aus dem Türkischen von Canset Içpınar und Ebru Taşdemir | |
17 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Tuğba Tekerek | |
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