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# taz.de -- Künstler im Widerstand: Keine Angst vor Hunger
> Baris Atay macht keinen Hehl aus seiner politischen Meinung. Kürzlich
> verbot die türkische Regierung sein Theaterstück über einen machtgeilen
> Diktator.
Bild: „Wo eine Kultur der Huldigung herrscht, kann Kunst nicht blühen.“
taz.gazete: Der Dikator aus Ihrem Stück kann die Macht nur mithilfe anderer
Menschen ergreifen – jenen die ihm den Weg ebnen, aber auch jenen, die sich
ihm nicht entgegenstellen. Haben wir den Diktator erschaffen?
Barış Atay: Onur Orhan, der das Stück geschrieben hat, ist davon
ausgegangen, dass die Zuschauer mehrheitlich Oppositionelle sein würden.
Diese würden, erwarten am Ende des Stücks den Diktator (er sagt eigentlich
Erdoğan) stürzen zu sehen, um mit trügerischer Freude nach Hause zu gehen.
Von dieser Erwartung hat sich Orhan freigemacht. Er war überzeugt, ein
Diktator beziehe seine Macht nicht nur von seiner Basis, sondern auch von
der Unzulänglichkeit der politischen Aktionen seiner Gegner.
Eine Perspektive, die dem Publikum nicht unbedingt gefällt.
Bereits in der Vergangenheit gab es Menschen oder Interessensvertreter, die
sich aus Eigeninteresse nicht gegen Erdoğan geäußert haben. Das trifft auch
auf EU-Staaten zu. Zu sagen, allein die AKP-Basis habe dem Präsidenten zur
Macht verholfen, würde bedeuten, unsere eigenen Fehler zu ignorieren. Dabei
ist fehlende Selbstkritik das Hauptproblem im politischen System der
Türkei.
Ihr Stück wird bereits seit drei Jahren in der Türkei aufgeführt, aber erst
jetzt wurde es in zahlreichen Provinzen durch örtliche Behörden verboten.
Was macht das Stück plötzlich so gefährlich?
Das habe ich mich auch gefragt. Das wird unterschiedliche Gründe haben. Ich
bin ein politischer Schauspieler und mache das auch in meinen
künstlerischen Präferenzen deutlich. Die Regierung instrumentalisiert den
Ausnahmezustand zur Durchsetzung ihrer Interessen. Auf diese Weise wird das
Land für jeden, der sich als oppositionell versteht, zu einem offenen
Gefängnis. Nach der dritten Saison haben wir das Stück häufiger in anderen
Städten außerhalb von Istanbul aufgeführt. Erst so wurde die Basis der
Regierung darauf aufmerksam und reagierte massiv. Das dürfte die Regierung
gestört haben.
Dabei macht doch ein Verbot erst alles interessant.
Sicher. Unter normalen Umständen hätten sich vielleicht nicht so viele für
das Stück interessiert. Aber wenn die Polizei mit Barrikaden die Spielsäle
abriegelt, fragen sich die Menschen erst recht, worum es geht. Neugier
treibt den Menschen an. Und etwas zu verbieten heißt noch lange nicht, dass
man Menschen nicht erreicht.
Sie haben Wege gefunden die Zensur zu umgehen. Sie ließen die Aufführungen
live ins Internet streamen und habenden Text kostenlos online gestellt. Das
wird in Zukunft vielleicht nicht mehr so einfach sein. Ein neues
Internetgesetz sieht vor, dass Website-Betreiber sich einer Prüfung der
RTÜK (Oberste Rundfunkbehörde) unterziehen, um eine Lizenz zu erhalten.
Wir dachten, das Internet garantiert eine verhältnismäßig freie Atmosphäre.
Aber klar, wenn wir das denken, denkt das auch die Regierung und überlegt,
wie sie das unterbindet. Ich glaube nicht, dass solche Maßnahmen für die
Ewigkeit sind.
Je mehr Verbote es gibt, umso stärker suchen die Leute nach Wegen, sie zu
umgehen. Die Regierung hat Angst. Nicht vor mir persönlich, aber sie
fürchtet alles, was sie nicht voraussehen kann und von dem sie glaubt, dass
es Leute in Bewegung versetzen könnte.
Finden Sie die türkische Gesellschaft mutig?
Würde sich Mut so schnell wie Angst verbreiten, hätten wir die Angst längst
überwunden. Aber dass Mut langsamer wächst heißt nicht, dass es keine
Hoffnung gibt. Womöglich hätte sich noch vor fünf Jahren kein Mensch an
einer Solidaritätsaktion für ein Theaterstück in den sozialen Medien
beteiligt.
Vor kurzem haben Menschen auf dem Beşiktaş-Platz lautstark den Text von
„Nur ein Diktator“ vorgetragen und Dorfbewohner, die noch nie im Theater
waren, haben sich den Text besorgt, um ihn zu lesen. In einer Zeit, in der
Menschen für Postings in den sozialen Medien verhaftet werden, sind diese
Aktionen ein Zeichen dafür, dass eine Angstschwelle überwunden ist. Es
braucht ein wenig Geduld.
In dem Stück heißt es, es gehe dem Diktator weniger um Geld als darum,
Geschichte zu schreiben. Welche Geschichtsschreibung erfährt aktuell die
Kunst?
Eines der wenigen Dinge, das der AKP in den 16 Jahren ihrer Regierung nicht
gelungen ist: die Herrschaft über die Kunst zu erlangen. Das gehöre für ihn
zu den größten Kümmernissen, hat der Staatspräsident mehrfach gesagt.
Wir sehen, wie Menschen künstlerisch unfruchtbar werden und ihre
Produktivität einbricht, wenn sie jemanden beweihräuchern müssen. Wo eine
Kultur der Huldigung herrscht, kann Kunst nicht blühen. Über Erdoğans Leben
wurden zwei Filme gedreht, nicht mal die AKP-Basis hat Tickets dafür
gekauft. Seither werden Fernsehserien, das von der Bevölkerung am stärksten
konsumierte Medienformat, für Propagandazwecke instrumentalisiert.
Das häufigste Thema in diesen TV-Serien sind die türkische Armee oder die
osmanische Geschichte, in denen der Tod fetischisiert wird. Parallel dazu
steigt die Zahl der Menschen, die für das Land sterben und töten wollen.
Hat eine Opposition, die es in diesen Tagen schwer hat, das Wort Frieden
auszusprechen, überhaupt eine Chance auf den Sieg?
„Den Tod in Kauf nehmen“ ist nur eine Metapher. Natürlich gibt es auch
Fanatiker, aber ich glaube nicht, dass alle in der AKP-Basis bereit wären
zu sterben. Was die Opposition dem entgegensetzen kann, ist es in Kauf zu
nehmen, ins Gefängnis zu gehen oder den Job zu verlieren, was dem Tod
gleich kommt.
Der Krieg ist von Bedeutung, wenn es darum geht herauszustellen, wie weit
die Polarisierung in der Gesellschaft gediehen ist. In der Türkei erlernen
manche Menschen in der Schulzeit sehr einfache politische Ereignisse und
Argumente, damit bilden sie sich dann ihre politische Meinung. Die Siege in
der osmanischen Aufstiegsphase, die gewonnenen Kämpfe der Gründerväter in
der frühen Phase der Republik. Die jüngere Geschichte kommt gar nicht vor.
Die AKP tut ja jetzt nichts anderes. Die Generation, die sie heranzieht,
ist in ihrer politischen Unwissenheit nicht anders. Da wird nichts
hinterfragt. Und dann, wenn Sie Nein zum Krieg sagen – und ich rede nicht
allein von Afrin – wenn da ein einziger türkischer Soldat kämpft, dann sind
alle Gegenargumente für die Katz. Der größte Erfolg von Regierungen ist es,
Menschen davon abzubringen, weiter nachzudenken.
Insbesondere nach dem Putschversuch hat die Regierung versucht, Dissidenten
durch „Hunger“ auf Linie zu bringen. Wenn sie ein Theaterstück verbietet,
bringt sie damit nicht nur die Gesellschaft um ihren geistigen Fortschritt,
sondern auch Sie um Ihre Einkommensquelle.
Wer ohnehin hungert, fürchtet sich nicht davor weiter zu hungern. Niemand,
für den Geld nur ein Mittel zum Zweck ist, ändert nicht seine
Lebensanschauung, weil er hungert. Aber wer seinen Lebensinhalt auf Geld
aufbaut, wird nicht nur Angst vor dem Hungern haben, sondern bereits davor,
etwas weniger zu verdienen.
Ein Schauspieler, der durch seine Arbeit zehn Wohnungen und zehn Autos
kaufen konnte, wird Angst haben, seinen Lebensstandard nicht halten zu
können. Aber ich als Mieter einer Dreizimmerwohnung ziehe eben in eine
Zweizimmerwohnung und kämpfe weiter. Letztendlich kann ich noch in den
Spiegel schauen. Viele Künstler*innen protestieren gegen die Repressalien,
aber es wird nur über die Prominenten berichtet.
Das ähnelt ein wenig dem Unterschied im Journalismus zwischen Ahmet Şık und
Can Dündar auf der einen und Nedim Türfent auf der anderen Seite.
Genau, im Grunde führen viele Menschen Widerstand. Aber für jene, deren
Namen wir besser kennen, setzt man sich stärker ein, sie sind sichtbarer,
als die weniger prominenten.
Finden Sie es nicht anstrengend, ständig engagiert zu sein?
Die Türkei ist ein anstrengendes Land. Es sind ja nicht nur Probleme, die
einen selbst betreffen. Auch Dinge, die anderen passieren macht man sich zu
eigen und das kann im Laufe der Zeit schon belastend sein. Aber Menschen
nehmen Menschen mit Kampfgeist zum Vorbild. Und ich schöpfe Kraft von
Menschen, die wie ich denke, aber keine starke Stimme haben. Woher sollte
ich sonst die Kraft zu kämpfen nehmen, wenn ich nicht wüsste, dass es
Menschen wie mich gibt? Das gilt es zu steigern, zu verbreiten. Es ist
gefährlich zu denken, es wird schon jemand anderes kämpfen.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
19 Feb 2018
## AUTOREN
Ali Çelikkan
Erk Acarer
## TAGS
taz.gazete
Politik
Türkei
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Kommentar Eroberung Afrins: Moment des Triumphs
Viele Türken sehen Erdoğan als einen ihrer großen Sieger. Auch wenn er in
Syrien kein Gebiet besetzen will, wird er dort doch die Fäden ziehen.
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