# taz.de -- Angriff auf ein Grundrecht | |
> Der geplatzte G20-Prozess gegen Fabio V. zeigte, wie Polizei und Justiz | |
> in Hamburg das Versammlungsrecht gefährden. Die Folge spüren auch ein | |
> Bonner Doktorand und ein Student, nach dem die Ermittler öffentlich | |
> fahnden | |
Bild: Justiz und Polizei in Hamburg sahen bei G20 Hooligans am Werk | |
Aus Hamburg Stefan Buchen und Philipp Hennig | |
Auf die Frage, wann Demonstranten zu Straftätern werden, haben Polizei und | |
Justiz in Hamburg eine einmütige Antwort: Auch wer gewaltfrei an einem | |
Protestmarsch teilnimmt, kann sein Grundrecht auf Versammlungsfreiheit | |
schnell verwirken. Es genügt demnach schon, an einem Protestmarsch | |
teilzunehmen, aus dem heraus einige wenige Personen Gegenstände werfen. | |
Dann hat man die Gewalttäter durch seine bloße Anwesenheit „unterstützt“ | |
und macht sich des schweren Landfriedensbruchs schuldig. Strafmaß: bis zu | |
zehn Jahre Haft. | |
Während des G20-Gipfels wurde die Demonstration einer etwa 200 Personen | |
starken Gruppe auf dem Weg in die Innenstadt, in der Straße „Rondenbarg“, | |
von der Polizei gewaltsam aufgelöst. Einige im vorderen Bereich | |
marschierende Demonstranten schleuderten Steine und Rauchtöpfe in Richtung | |
der herannahenden Beamten, ohne diese zu treffen. Die Staatsanwaltschaft | |
zählte 14 Steine und 4 „pyrotechnische Gegenstände“. | |
Wer geworfen hat, ist unklar. Angeklagt ist unter anderem der Italiener | |
Fabio V., der nach dem Gipfel monatelang in Haft saß. Dass er selbst Gewalt | |
ausübte, ist äußerst unwahrscheinlich, weil er im hinteren Teil des | |
Protestmarsches unterwegs war. Das Urteil sollte eigentlich gestern | |
gesprochen werden. Aber dazu kommt es nicht, weil sich die Vorsitzende | |
Amtsrichterin krankgemeldet hat. Sie ist hochschwanger. Ob der Prozess vor | |
einem anderen Richter neu aufgerollt wird, ist unklar. Aber auch ohne | |
Urteil im Fall Fabio ist der „Rondenbarg-Komplex“ keineswegs erledigt. Mehr | |
als 70 weitere Beschuldigte, die an der Demonstration teilgenommen haben | |
und deren Lage mit der von Fabio V. vergleichbar ist, warten auf ihre | |
Anklage. | |
Die Hamburger Polizei hält sie alle des Landfriedensbruchs für schuldig. | |
„Es handelte sich um einen in seiner Gesamtheit gewalttätig handelnden | |
Mob.“ So charakterisierte der Leiter der SoKo „Schwarzer Block“, Jan | |
Hieber, die Demonstration auf einer Pressekonferenz im Dezember. „Es reicht | |
eben, wenn man sich in so einer Gruppe bewegt“, erläuterte der Hamburger | |
Polizeipräsident Ralf Martin Meyer. Polizeipräsident und Hanseatisches | |
Oberlandesgericht verweisen auf eine höchstrichterliche Entscheidung zum | |
Landfriedensbruch. Im Mai 2017 hatte der Bundesgerichtshof (BGH) Teilnehmer | |
einer Hooligan-Formation am Rande eines Fußballspiels für schuldig | |
befunden, die nicht selbst geprügelt, sondern durch „ostentatives | |
Mitmarschieren“ den Schlägern „psychische Beihilfe“ geleistet hätten. D… | |
BGH macht in seiner Entscheidung aber deutlich, dass dieser Fall sich von | |
politischen Demonstrationen unterscheide, bei denen von einigen Teilnehmern | |
– nicht aber von allen – Gewalttätigkeiten begangen werden. Dass der | |
Protestzug am Rondenbarg genau eine solche verfassungsrechtlich geschützte | |
Demonstration war, meinen Experten nach Ansicht des vorhandenen | |
Videomaterials. „Aus meiner Sicht spricht eigentlich alles dafür, dass es | |
sich hier eine Versammlung handelt“, sagt der Kriminologe Tobias | |
Singelnstein. Auf Nachfrage, warum er den „Hooligan-Fall“ trotzdem auf die | |
Anti-G20-Demonstration in Hamburg übertrage, antwortete Polizeipräsident | |
Meyer: „Man sollte nicht versuchen, sich auf dem Gebiet der Juristerei zu | |
tummeln.“ | |
Polizei und Gerichtsbarkeit in Hamburg meinen, dass jener Protestzug vor | |
dem G20-Gipfel keine Versammlung im Sinne des Grundgesetzes war. Den | |
Teilnehmern der Demo sprechen sie politische Anliegen ab. Keine | |
Demonstranten, sondern Kriminelle. | |
Kriminell ist demnach auch Simon Ernst, einer der mehr als 70 | |
Beschuldigten, die auf derselben Demonstration wie Fabio V. waren. Auf | |
Polizeivideos ist der Mann zu erkennen, wie er, mit einer roten Jacke | |
bekleidet, im Strahl eines Wasserwerfers steht und eine Frau beschützt. Dem | |
32-jährigen Bonner politische Anliegen abzusprechen, scheint vermessen. | |
Seit mehr als zehn Jahren ist er in der Gewerkschaft Verdi engagiert. | |
Mehrfach meldete Ernst Demonstrationen gegen Rechtsradikale an. | |
Am frühen Morgen des 5. Dezember klopft es bei ihm an der Wohnungstür. | |
Einen Augenblick später tummeln sich zehn Beamte in seiner | |
2-Zimmer-Wohnung. Ein Polizist bugsiert den splitternackten | |
Promotionsstudenten auf das Wohnzimmersofa und hält ihm einen | |
Durchsuchungsbeschluss aus Hamburg unter die Nase, Vorwurf | |
„Landfriedensbruch“. Ernst ist da einer von 22 Teilnehmern der | |
Demonstration am „Rondenbarg“, deren Wohnungen in einer bundesweiten Razzia | |
zeitgleich durchsucht werden. | |
Die Beamten beschlagnahmen Computer, Festplatten und USB-Sticks. Auf den | |
Datenträgern befindet sich die fast fertige Doktorarbeit von Simon Ernst. | |
„Das ist meine Arbeitsgrundlage, meine Lebensgrundlage“, sagt der Promovend | |
fast drei Monate später entgeistert. | |
Seit dem Tag der Beschlagnahmung verlangt er die Herausgabe wenigstens | |
einer Kopie, bislang ohne Erfolg. Die Ermittler fordern von Ernst als | |
Bedingung für die Rückgabe, Zugangscodes zur Festplatte seines Rechners | |
mitzuteilen. Für Ernst ein Erpressungsversuch. Die Hamburger | |
Staatsanwaltschaft erklärt auf Anfrage, dass dem Beschuldigten nun eine | |
Kopie seiner Doktorarbeit „übersandt“ worden sei. | |
Kenner der Materie bescheinigen der Hamburger Polizei seit den Tagen des | |
rechtsradikalen Innensenators Ronald Schill „eine gewisse | |
antiintellektuelle Tendenz“. Das mag dazu beitragen, dass es nicht sofort | |
auffällt, wenn die Schranken des Grundgesetzes eingerissen werden. | |
So wie bei der Öffentlichkeitsfahndung. Am 20. Dezember 2017 hat Ulrich | |
(Name geändert) sein Foto im Fernsehen und im Internet gesehen: unter einem | |
öffentlichen Fahndungsaufruf der Hamburger Polizei. Der Student ist einer | |
von 26 Demonstranten, die am „Rondenbarg“ fotografiert, aber nicht | |
identifiziert wurden. Die Ermittler hoffen, dass die Gesuchten nun von | |
Bekannten oder Nachbarn verraten werden. | |
„Erschrocken“ sei er darüber, sagt Ulrich. „Natürlich wird das Leute | |
einschüchtern.“ Bislang konnten die Beamten den Gesuchten nicht ausfindig | |
machen. „Panorama 3“ und die taz haben ihn getroffen. „Das war eine | |
legitime Demonstration mit Megafondurchsagen, Redebeiträgen und | |
Transparenten“, sagt er. „In was für einer Gesellschaft leben wir | |
eigentlich, wenn Angst gemacht wird, im Alltag Denunziationen ausgesetzt zu | |
sein. Da steht nicht nur meine persönliche Freiheit infrage, sondern auch | |
die Freiheit der Gesellschaft und einzelner politischer Gruppen.“ | |
Der 1. Februar ist ein besonderer Verhandlungstag im Prozess gegen den | |
Angeklagten Fabio V. vor dem Jugendschöffengericht in Hamburg-Altona. | |
Promotionsstipendiat Simon Ernst und die Krankenschwester Julia Kaufmann, | |
ebenfalls aktives Verdi-Mitglied in Bonn, sagen als Zeugen aus. Sie | |
schildern den frühen Morgen des 7. Juli 2017, wie er sich aus ihrer Sicht | |
zugetragen hat. Beide bezeugen ihre politische Motivation. Beide | |
bekräftigen, dass Gewalt gegen Personen oder Sachen nicht zu ihrem | |
Demo-Repertoire gehörten und dass sie solches auch an jenem Morgen nicht | |
beabsichtigt hätten. | |
Laut Hamburger Staatsanwaltschaft seien im Zusammenhang mit dem Einsatz | |
gegen sieben Polizeibeamte interne Ermittlungen eingeleitet worden. Drei | |
Verfahren seien an die Staatsanwaltschaft abgegeben worden. Davon sei eines | |
mangels Tatverdachts eingestellt worden. | |
28 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Stefan Buchen | |
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