| # taz.de -- Bier stattRevolte | |
| > Kann man das Revolutionsjahr 1968 auf der Bühne reanimieren? Die | |
| > Kammerspiele München unternehmen einen Versuch, der mehr Fragen aufwirft, | |
| > als er Antworten gibt | |
| Bild: „Eine Besetzung der Kammerspiele“ findet oftmals weich gepolstert zwi… | |
| Von Annette Walter | |
| Der Aufruhr an den Münchner Kammerspielen ist 50 Jahre her: Geld sammelte | |
| der Kabarettist Wolfgang Neuss nach der Premiere das Stückes „Viet Nam | |
| Diskurs“ von Peter Weiss, um dem Vietcong den Kauf von Waffen zu | |
| ermöglichen. Die Leitung des Theaters sei schizophren, schrien die | |
| Kritiker. Ein Missstand in der Welt solle mit dem Stück bloßgestellt | |
| werden, erklärte der damalige Intendant August Everding und stellte sich | |
| schützend vor sein Ensemble. Der Eklat endete jedoch damit, dass Everding | |
| das Stück schließlich vom Spielplan nahm. | |
| Nun ist dieser Vorfall loser Anknüpfungspunkt einer Inszenierung, die sich | |
| mit 1968, dem Jahr der Revolte, befasst. Die Dramaturgen Tarun Kade | |
| (Jahrgang 1984) und Johanna Höhmann (Jahrgang 1981) haben den Abend mit dem | |
| Untertitel „Eine Besetzung der Kammerspiele“ inszeniert. | |
| Happeningatmosphäre und Improvisationsgeist manifestiert passend dazu das | |
| Bühnenbild von Raumlabor Berlin: Gespielt wird auch mitten im | |
| Zuschauerraum. In einem der acht Kurzstücke erinnert eine der Beteiligten, | |
| Regisseurin Leonie Böhm, an die Figur Neuss. Die damalige Spendensammlung | |
| wird in eine „Aktion des Schenkens“ umgewandelt. | |
| ## Globaler Rundumschlag | |
| Die anderen Episoden, die an diesem Performanceabend zu sehen sind, | |
| interpretieren das Revolutionsjahr 1968 völlig anders. Ambitioniert holen | |
| die Macher nämlich zum globalen Rundumschlag aus: Thema sind auch die | |
| damaligen Proteste in Mexiko-Stadt und Warschau. | |
| So skandiert etwa die deutsch-ivorische Gruppe Gintersdorfer/Klaßen aus | |
| Texten des Schriftstellers Frantz Fanon. Sein Essay „Die Verdammten dieser | |
| Erde“ lieferte den 68ern die Idee zum Konzept eines „revolutionären | |
| Subjekts“. Angeprangert wird bei Fanon die Unterdrückung Afrikas. Einer der | |
| Akteure ringt dem Publikum ein Schuldbekenntnis ab. „Ich werde immer ein | |
| genozidäres Monster sein“, müssen die Zuschauer auf seine Aufforderung hin | |
| rufen. | |
| Das prägnanteste Stück an diesem Abend liefert der deutsch-polnische | |
| Regisseur Wojtek Klemm. Er befasst sich mit dem polnischen Widerstand | |
| anhand der Selbstverbrennungen zweier Männer: Piotr S., der sich im Oktober | |
| 2017 auf diese Weise tötete, um gegen die rechtskonservative Regierung in | |
| Warschau zu protestieren, und Richard S., der das Gleiche nach der | |
| Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 getan hatte. Das Duo Stefan Merki | |
| und Gro Swantje Kohlhof ringt in dieser Episode körperlich-verbal | |
| miteinander. Auf sein heroisches „Ich protestiere gegen die Vernichtung der | |
| unabhängigen Justiz“, lästert sie: „Passt so eine romantische Geste in | |
| unserer Zeit?“. Wenn am Ende auf der großformatigen Videoleinwand ein | |
| brennender Körper auftaucht, lässt das schaudern. Hier flammt kurz Wut auf | |
| über die Verhältnisse. | |
| Elfriede Jelinek darf in einem Videobeitrag eine „Lesung“ von 1968 | |
| reenacten. Damals hatte sie als Referenz an John Cage ein Buch zwar | |
| aufgeschlagen, aber nicht zu lesen begonnen. Ihr Vortrag hat keine Tonspur, | |
| mehr als ihr Bild sieht man nicht. Das Frauen-Performance-Kollektiv Henrike | |
| Iglesias zieht parodistisch Bilanz der Errungenschaften der 68er für die | |
| Frauen heute und nimmt dem Publikum feministische Zukunftsversprechen ab: | |
| „Ich verspreche, dass ich Frauen auch dann unterstützen werde, wenn sie | |
| nicht mit mir schlafen wollen.“ | |
| Einige der Darbietungen rütteln durchaus auf, wie Wojtek Klemms Beitrag, | |
| andere amüsieren wie die satirische Einlage Henrike Iglesias. Nur: Richtig | |
| provokant ist das alles nicht. | |
| Man hat nicht das Gefühl, einen wachrüttelnden, starken Impuls von 1968 in | |
| die Gegenwart zu erhalten. Wenn Rudi Dutschkes Stimme kurz zu hören ist, | |
| kriegt man kurz eine Ahnung von dem Zorn, der einst in der Luft lag. Ein | |
| ähnliches Gefühl evoziert ein Gespräch zwischen Daniel Cohn-Bendit und | |
| Jean-Paul Sartre im fundierten Reader zum Themenabend „1968“. | |
| Der Geist der Revolte, der 1968 regierte, die Krawalle und Wortgefechte | |
| kommen einem an diesem Abend weit entfernt vor. Vermutlich ist das auch gar | |
| nicht gewollt, der Zeitgeist hat sich geändert. Passend dazu erklärt | |
| Dramaturg Kade in einem Interview im Deutschlandfunk: „Die Vereinzelung ist | |
| das zentrale Problem, dass man nicht gemeinsam diese Kraft entwickeln | |
| kann.“ An diesem Abend, der wie eine Versuchsanordnung, ein Experiment | |
| wirkt, ist ein Bier, das den Zuschauern während der Aufführung kredenzt | |
| wird, schon eine Extravaganz. | |
| Der Stückereigen endet statt im Tumult mit einer ironischen | |
| Weltumarmungsgeste mit dem Song „Ohne dich“ der Band Münchner Freiheit. | |
| Spielt diese Schlagergruppe nun den Soundtrack zur Rebellion? Oder ist es | |
| ein bissiger Kommentar zu den Werten, die heute für das Individuum zählen, | |
| nämlich die Verwirklichung in der Zweisamkeit statt dem umstürzlerischen | |
| Engagement im Kollektiv? Oder ist die Flucht in die Ironie nun die einzig | |
| gültige Antwort auf das Scheitern der Utopien? Man bleibt ratlos zurück. | |
| Aufschluss geben vielleicht weitere Veranstaltungen an den Kammerspielen zu | |
| 1968. Auserzählt ist dieses Schicksalsjahr noch nicht. | |
| 14 Feb 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Annette Walter | |
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