# taz.de -- Der Kampf um Essen wird härter | |
> Vor 25 Jahren startete in Berlin die deutsche Tafel-Bewegung. Bundesweit | |
> gibt es heute 937 Tafeln | |
Von Anja Sokolow | |
Ein mannshoher Berg aus Rauke, Tomaten, Fenchel und anderem verdorbenem | |
Gemüse türmt sich vor der Lagerhalle der Berliner Tafel auf. Alles, was die | |
Helfer aussortieren, kommt seit wenigen Wochen in einen Container. | |
„Mithilfe von Holzkohle produzieren wir jetzt wertvolle Komposterde für | |
ökologische Landwirtschaft, sogenannte Terra preta“, erklärt | |
Tafel-Gründerin und -Vorstand Sabine Werth. | |
Alles, was noch brauchbar ist, kommt hingegen aus Pappkartons in saubere | |
Kisten, um später an Bedürftige verteilt zu werden: Obst, Gemüse, Brot, | |
Brötchen, Joghurt, Wurst – alles das, was Händler nicht mehr verkaufen oder | |
auch andernorts nicht mehr gebraucht wird. | |
Vor 25 Jahren hat die heute 62-jährige Sabine Werth – inspiriert von einer | |
Idee aus den USA – erstmals Brot und Brötchen bei Bäckern eingesammelt, um | |
sie an Obdachloseneinrichtungen zu verteilen. Was als kleine Hilfsaktion | |
mit wenigen Aktiven und Privatautos begann, hat sich zu einer der größten | |
Hilfsbewegungen in Deutschland entwickelt. Allein in Berlin verteilen rund | |
2.000 Ehrenamtliche monatlich 660 Tonnen Lebensmittel für 125.000 | |
Bedürftige. 26 Hauptamtliche organisieren die Arbeit, und einen Fuhrpark | |
gibt es mittlerweile auch. | |
„Bundesweit existieren aktuell 937 Tafeln“, sagt Stefanie Bresgott vom | |
Dachverband Die Tafeln. Bis zu 1,5 Millionen Menschen nutzen die Angebote | |
demnach regelmäßig – unter ihnen Alleinerziehende, kinderreiche Familien, | |
Senioren, Arbeitslose, Studenten, Flüchtlinge. Doch Grund zum Feiern gibt | |
es aus Sicht von Kritikern wie Stefan Selke nicht. Die Existenz eines | |
solchen Almosensystems in einem reichen Land sei ein politischer Skandal. | |
„Sie sind der Pannendienst einer sozial erschöpften Gesellschaft, die immer | |
mehr ihrer Mitglieder als Überflüssige abspeist“, so der Soziologe. | |
Immerhin sei die Armut aber für die Politik ein Thema geworden. „Als wir in | |
der Kohl-Ära anfingen, gab es sie offiziell nicht“, erinnert sich Werth. | |
Heute hat sie andere Sorgen: Es werde immer schwieriger, Lebensmittel für | |
die steigende Zahl Bedürftiger einzusammeln. „Die Händler haben gemerkt, | |
dass ihr System falsch ist.“ Auch bei den Produzenten falle dank feiner | |
justierter Maschinen deutlich weniger Überschuss an. | |
Außerdem steige die Konkurrenz unter den Tafeln. „Die regionalen Grenzen | |
werden gern mal überschritten. Wir kannibalisieren uns da gegenseitig“, | |
sagt Werth. Sie sucht deshalb mit ihrem Team nach neuen Wegen für die | |
Zukunft – nicht nur mit dem Abfallprojekt, mit dem die spendenfinanzierte | |
Tafel jetzt auch Entsorgungskosten spart. „Wir wollen, dass Kinder und | |
Jugendliche als Konsumenten-Generation von morgen bewusster mit | |
Lebensmitteln umgehen“, sagt sie mit Blick auf das Projekt Kimba, bei dem | |
ein Doppeldeckerbus regelmäßig an Schulen unterwegs ist und unter anderem | |
Kochkurse organisiert. Am sichtbarsten ist die Tafel-Arbeit aber nach wie | |
vor in den Ausgabestellen. In Berlin heißen sie „Laib und Seele“ und | |
unterstützen rund 50.000 Bedürftige. | |
Obwohl Tafeln inzwischen nicht mehr wegzudenken sind, fällt der Gang | |
dorthin nicht immer leicht. Das berichtet auch der Wuppertaler | |
Wissenschaftler Holger Schoneville, der untersucht hat, wie Tafel-Nutzer | |
sich fühlen. „Sie stellen für die Betroffenen eine lebensnotwendige Hilfe | |
bereit und sind zugleich Teil sozialer Ausgrenzungsprozesse, die die Würde | |
der Nutzer berührt“, so der Forscher. Er glaubt nicht, dass die Tafeln | |
grundlegende Probleme lösen: „Sie bekämpfen die Armut nicht“, so | |
Schoneville. „Tafeln verringern eindeutig den Druck, solidarisch gegen | |
Armut zu kämpfen“, kritisiert Selke. | |
Ans Aufhören denken die Tafeln allerdings nicht. „Solange offensichtlich | |
ist, dass Tafeln ‚machen‘ und dadurch ‚wirken‘, solange es Ungerechtigk… | |
Überfluss und Mangel gibt, so lange wird sich keine Tafel abschaffen, nur | |
weil irgendjemand behauptet, es dürfe sie in einem reichen Land gar nicht | |
geben“, sagt Bundessprecherin Bresgott. (dpa) | |
21 Feb 2018 | |
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