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# taz.de -- Dasskurrile Dasein der Angestellten
> Chronologie von großer Alltäglichkeit und Tragik: Endlich liegt J. J.
> Voskuils Romanzyklus „Das Büro“ vollständig auf Deutsch vor. Eine
> Spurensuche
Bild: J. J. Voskuil beschrieb sein eigenes Arbeitsleben am Meertens Instituut. …
VonKatharina Borchardt
Seiner späteren Verlegerin Gemma Nefkens vertraute J. J. Voskuil eines
frühen Morgens an: „Ich bin an etwas wirklich Großem dran.“ Das war Anfang
der 90er Jahre an der gepflegten Herengracht in Amsterdam, wo sie einander
ab und zu begegneten. „1.500 Seiten habe ich schon geschrieben, aber ich
weiß nicht, ob ich es schaffe, das Werk abzuschließen“, sagte Voskuil, der
ein paar Jahren zuvor in Pension gegangen war. Gemma Nefkens erinnert sich
noch genau an diese Szene.
Damals war Voskuil nicht mehr als ein verrenteter Volkskundler. Zwar hatte
er 1963 einen umfangreichen Roman über seine Studentenzeit vorgelegt, doch
das war lange her. Seither hatte er ausschließlich wissenschaftliche Texte
publiziert. In ihnen befasste er sich damit, was die niederländischen
Landwirte mit der Nachgeburt ihrer Pferde taten, wie die Wände
landestypischer Bauernhäuser beschaffen waren oder wie man im 16.
Jahrhundert die Steuern eintrieb.
Fachpublikationen ohne Bestsellerqualitäten. Sie entstanden im Rahmen
seiner langjährigen Arbeit am Meertens Instituut in Amsterdam. 1957 wurde
der studierte Niederlandist dort angestellt; 1987 ging er mit 61 Jahren
vorzeitig in Pension. Damals wurden die Migräneanfälle, die ihn lange schon
quälten, immer schlimmer. „Er wusste, dass seine Migräne mit der Arbeit zu
tun hatte“, erklärt Voskuils Übersetzer Gerd Busse, „und er merkte, dass …
das alles einmal aufschreiben musste.“
Das tat er dann auch. „Ehemalige Kollegen von Voskuil haben mir erzählt,
dass sie ihn später noch gelegentlich besucht haben“, fügt Busse an.
„Während sie sich mit seiner Ehefrau Lousje einen Kaffee oder einen Jenever
genehmigten, saß er selbst an der Schreibmaschine und tippte wie ein
Besessener auf ihr herum.“
So entstand „Das Büro“, dieser gut 5.000 Seiten dicke Roman über ein drei
Jahrzehnte umfassendes Berufsleben. Jetzt liegen die sieben Bände auch
vollständig auf Deutsch vor. Verleger Wouter van Oorschot holte die
umfangreichen Skriptmappen mit dem Fahrrad ab, erinnert sich seine Kollegin
Gemma Nefkens. „Wir merkten sofort, dass ‚Das Büro‘ etwas ganz Besonders
ist“, erzählt sie. „Weder aus der niederländischen Literatur noch aus den
Literaturen anderer Länder war uns ein vergleichbares Werk bekannt.“
Zwar gibt es strukturelle Analysen des Angestelltendaseins etwa von
Siegfried Kracauer oder von Robert Walser, aber keine so detailgetreue,
geradezu phänomenologisch angelegte Langzeitbetrachtung eines ganzen
Arbeitslebens. Es ist der Arbeitsalltag eines einzelnen Mannes und eines
wissenschaftlichen Instituts, in dem der Verbreitung des Weihnachtsbaums
ebenso beharrlich nachgegangen wird wie der Verwendung des Dreschflegels.
Zu einer Krise kommt es erst, als die „Bibliografie des geistlichen Liedes“
nach 13 Jahren immer noch nicht fertig ist und die Produktivität des
„Büros“ plötzlich evaluiert werden soll.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht der Volkskundler Maarten Koning, den
man getrost mit J. J. Voskuil gleichsetzen kann. „Das Büro“ ist ein
autobiografischer Roman, dessen Figuren alle real existiert haben. Zwar hat
Voskuil ihnen fiktive Namen gegeben, doch die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Meertens Instituut erkannten sich natürlich sofort wieder.
Manche nahmen es gelassen, andere waren tödlich beleidigt und taten dies
auch im niederländischen Fernsehen kund. Denn skurril wirken sie alle: der
insgeheim homosexuelle Chef, sein strenger Nachfolger, der klassische
Arbeitsverweigerer, der ewige Krankmacher, der nervige Querkopf, die alte
Jungfer und der sorglose Jungspund. Und dazwischen der kontaktscheue, oft
ratlose Maarten Koning, der dreißig Jahre lang eine Arbeit verrichtet,
deren Sinn sich ihm nicht erschließt. Eine Chronologie von großer
Alltäglichkeit und aufgrund ihrer Zeitspanne von immenser Tragik.
Heute geht man entspannt um mit dem literarischen Erbe und ist sogar stolz
darauf, unterstreicht Peter Jan Margry, Ethnologe am Meertens Instituut im
historischen Zentrum von Amsterdam. Im Gang vor seinem Büro hängen die
volkskundlichen Karten, die man zu Voskuils Zeiten gezeichnet hat. „Diese
Karten finden wir heute vor allem dekorativ“, erklärt Margry. „Die
ethnologische Arbeit hat sich seit Voskuils Zeiten methodisch ja stark
verändert, und auch unser thematischer Fokus hat sich verschoben. Wir
nehmen heute viel stärker Themen der Gegenwart in den Blick, etwa das
postkoloniale Zusammenleben oder die Entstehung moderner Mythen.“ Und er
fügt an: „Trotzdem respektieren wir Voskuils Arbeit als Volkskundler, und
wir schätzen auch seinen Roman. Wir besitzen die Romanreihe sogar in
zweifacher Ausführung und raten jedem neuen Mitarbeiter, ein paar der Bände
zu lesen.“
Dass Voskuil Wissenschaft als sinnfreie Tätigkeit verschrobener Charaktere
darstellt, nimmt man ihm nicht mehr übel. „Ich finde es eher spannend zu
sehen, dass Voskuil seine wissenschaftliche Methodik auch in seinen Roman
übernommen hat“, sagt Margry. „Denn ‚Das Büro‘ ist ja selbst eine
ethnologische Untersuchung über moderne Bürokultur.“
Voskuil ist ein fantastischer Beobachter. Er psychologisiert nicht, sondern
lässt seine Figuren selbst sprechen. Deshalb besteht sein Roman in weiten
Teilen aus Dialogen. Oft stehen die Kollegen bei einem Glas Buttermilch
oder einem kopje koffie zusammen und reden über wissenschaftliche Projekte
und die Probleme im Institut, außerdem über das politische Tagesgeschehen
und – ganz vorsichtig – auch mal über Privates. Die Dialoge sind
mitgeschriebene Wirklichkeit und dennoch subtil zugespitzt. „Sie sind ganz
schlicht gehalten, ganz trocken und deshalb hochkomisch“, bestätigt
Gerbrand Bakker, der mit dem Roman „Oben ist es still“ bekannt wurde. Als
Student der Linguistik war er in den 80er Jahren selbst kurz am Meertens
Instituut tätig: „Ich sollte eine Karte über die Verbreitung des
Substantivs appelmoes, also Apfelmus, zeichnen.“
Bakker lacht, wenn er von seinem Projekt erzählt. Voskuil hat er damals
nicht persönlich kennengelernt, doch der „Büro“-Zyklus, der in den späten
90er Jahren auf Niederländisch erschien, bedeutet ihm viel. Dreimal hat
Bakker ihn schon gelesen, und es wird auch eine vierte, fünfte und sechste
Lektürerunde geben, sagt er: „Ich komme aus Nordholland und bin deshalb für
Voskuils direkte Sprache sehr empfänglich. Er verwendet keine Metaphern.
Herrlich! Voskuil ist für mein eigenes Schreiben ein echtes Vorbild.“
Lut Missinne, Niederlandistin an der Universität Münster, ist in ihrem
Urteil zurückhaltender. Auch sie schätzt Voskuils präzise Lakonik und muss
gerade als Flämin bei der Lektüre oft lachen: „Maartens protestantischen
Arbeitsethos oder die bissige political correctness seiner Frau Nicolien
finde ich zutiefst holländisch“, sagt sie. „Ein Meisterwerk des 20.
Jahrhunderts, wie manche behaupten, ist ‚Das Büro‘ für mich aber nicht. D…
Roman hat Längen.“
Das stimmt: Die Textmasse dieses streng chronologisch von 1957 bis 1989
durcherzählten, auf keinen dramaturgischen Höhepunkt hinarbeitenden
„Büro“-Epos hat etwas Flächiges und in der häufigen Wiederkehr bestimmter
Gewohnheiten und Konflikte auch etwas Repetitives. Manche aber lieben genau
dies, denn darin fallen Literatur und Leben zusammen.
Für Gerbrand Bakker ist Voskuils Roman ein „Riesenmonument“. Und für den
Übersetzer Gerd Busse natürlich auch, der viele Jahre seines Lebens mit der
Übertragung zugebracht hat. Es ist ein Glück und auch eine kleine
Sensation, dass dieses 5.000-Seiten-Werk nun komplett auf Deutsch vorliegt.
10 Feb 2018
## AUTOREN
Katharina Borchardt
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