| # taz.de -- Heimatfilm für Heimatlose | |
| > Kinoklassiker und neue Filme aus der Schweiz entdecken: Das Festival | |
| > „Film:Schweiz“ beginnt heute im Brotfabrik-Kino | |
| Bild: „Der Goalie bin ig“ von Sabine Boss Foto: Turnus Film | |
| Von Lukas Foerster | |
| „Hinter den sieben Gleisen, jahraus und jahrein / Wohnt eine Lokomotive, | |
| bescheiden und klein / Sie träumt von der Schönheit und Weite der Welt / | |
| Und fühlt sich aufs stumpfe Geleise gestellt.“ So lautet eine Strophe des | |
| Lieds, das Kurt Frühs Film „Hinter den sieben Gleisen“ eröffnet. | |
| Der Film aus dem Jahr 1959 gehört zu den Klassikern des Schweizer Kinos und | |
| erzählt ein modernes Märchen: Drei Stadtstreicher nehmen sich einer jungen | |
| Frau an, die unverheiratet ein Kind erwartet und sich deshalb das Leben | |
| nehmen will. Aber die bescheidene Lokomotive bremst rechtzeitig ab, und die | |
| Frau, die es aus Deutschland ins südliche Nachbarland verschlagen hat, wird | |
| langsam heimisch auf dem Zürcher Bahnhofsgelände. | |
| Kurt Frühs kleine Lokomotive hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem Schweizer | |
| Kino insgesamt. Denn trotz des Reichtums der Schweiz, trotz ihrer zentralen | |
| Lage in Europa, trotz ihrer schon durch die Dreisprachigkeit ausgeprägten | |
| Multikulturalität ist das Schweizer Filmschaffen heute außerhalb der | |
| Landesgrenzen kaum sichtbar – erst recht, wenn man das auf internationalen | |
| Festivals dauerpräsente Kino des benachbarten Österreich als | |
| Vergleichsmaßstab nimmt. | |
| Von wenigen Ausnahmen wie jüngst dem Oscar-nominierten Animationsfilm „Mein | |
| Leben als Zucchini“ abgesehen, bleiben Schweizer Filme meist eine Schweizer | |
| Angelegenheit. In manchen Fällen kann man verstehen, warum das so ist: Die | |
| Mainstreamproduktion wird, ähnlich wie in Deutschland, von Komödien | |
| dominiert, die auf lokale Themen setzen und vielleicht tatsächlich nicht | |
| zum Exportschlager taugen. | |
| Schaut man sich jedoch auf Schweizer Filmfestivals in Solothurn oder | |
| Winterthur um, dann entdeckt man, dass daneben eine zwar vergleichsweise | |
| kleine, aber umso vielseitigere Filmszene blüht, die zu entdecken sich | |
| lohnt. | |
| Schön, dass die Brotfabrik nun auch in Berlin eine fein kuratierte Auswahl | |
| des Schweizer Filmschaffens zeigt. Und noch schöner, dass das vom 18. bis | |
| zum 24. Januar stattfindende Festival „Film:Schweiz“ neben aktuellen | |
| Produktionen auch ältere Filme auf dem Programm hat: Neben „Hinter den | |
| sieben Gleisen“ ist unter anderem noch Rolf Lyssys Film „Die | |
| Schweizermacher“ zu sehen, eine Migrationskomödie aus dem Jahr 1979, deren | |
| satirische Energie sich ebenfalls aus dem Gegensatz von faktischer | |
| Weltoffenheit des Einwanderungslandes Schweiz und der gefühlten Enge des | |
| blitzsauber geputzten Alltagslebens speist. | |
| Auf ganz andere Weise prägt diese Spannung auch „Hans im Glück“ (2003), d… | |
| vielleicht schönsten Film des 2014 verstorbenen Peter Liechti. Liechti, mit | |
| seinen hintersinnig-ironischen Dokumentarfilmen ein Solitär nicht nur im | |
| Schweizer Kino, entwirft eine Art Road Movie für Fußgänger: Weil er mit dem | |
| Rauchen aufhören will, läuft der Regisseur mit der Kamera in der Hand von | |
| Zürich nach seinem Heimatort St. Gallen. Und filmt, wen und was immer ihm | |
| dabei über den Weg läuft. | |
| ## Ein Schweizer Film noir | |
| Anders ausgedrückt: Liechti lässt sich von allem und jedem ablenken, und | |
| gerade der durch den Nikotinentzug verstärkte Zustand des Abgelenktseins | |
| ermöglicht eine neue Wahrnehmung. Der Regisseur selbst über seinen Film: | |
| „Un-Ruhe und Un-Sicherheit halte ich für einen kreativeren Zustand als | |
| professionelle Routine und abgeklärte (Selbst-)Sicherheit.“ „Hans im Glüc… | |
| ist ein Heimatfilm für Heimatlose, gespeist von Fernweh, von der Sehnsucht | |
| nach „der Schönheit und Weite der Welt“, die letztlich nicht in die Ferne, | |
| sondern zu einem genaueren, empathischen Blick aufs Eigene führt. | |
| Es gibt aber auch in der jüngeren Produktion Filme, bei denen man sich | |
| fragt, warum sie die heimischen Geleise bisher kaum verlassen haben. Etwa | |
| den Eröffnungsfilm des Festivals: Sabine Boss erzählt in „Der Goalie bin | |
| ig“ die melancholische Außenseitergeschichte eines drogensüchtigen | |
| Ex-Gefängnisinsassen mit einer Souveränität und Stilsicherheit, die man im | |
| Gegenwartskino nur noch äußerst selten findet. | |
| Im Grunde ist das ein Schweizer Film noir: Ernst aka Goalie kehrt nach der | |
| Entlassung in seinen kleinbürgerlich geprägten Heimatort zurück, hängt dort | |
| in der Kneipe ab, versucht, sich von falschen Freunden fernzuhalten, und | |
| stürzt sich bald in eine Liebesgeschichte, deren Aussichtslosigkeit | |
| eigentlich von Anfang an feststeht. Ganz unaufgeregt lenkt der Film den | |
| Blick auf die Abgehängten der Wohlstandsnation und zeigt, dass sich hinter | |
| den saturierten Oberflächen der Schweizer Provinz manchmal dieselben | |
| existenzialistischen Abgründe auftun wie in den mean streets amerikanischer | |
| Großstädte. | |
| 18. bis 24. Januar, Brotfabrik Kino | |
| 18 Jan 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Lukas Foerster | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |