# taz.de -- heute in hamburg: „Das Leid der Opfer wurde anerkannt“ | |
Bild: Foto: privat | |
Interview Adèle Cailleteau | |
taz: Frau Assmann, erinnert man sich heute noch an den Holocaust so wie vor | |
50 Jahren? | |
Aleida Assmann: Auf keinen Fall. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt das | |
Vergessen als die bessere Option. Wegen des Kalten Krieges wollten die | |
Alliierten die Deutschen nicht immer auf ihre Schuld ansprechen. Dazu kam | |
die Vorstellung, dass ein neues Europa gegründet werden müsse – das war nur | |
zu haben über die Aufgabe der Vergangenheit. | |
Wann kam der Wendepunkt? | |
Es blieb bei diesem sogenannten „kommunikativen Beschweigen“ bis in die | |
1980er-Jahre, dann hat es sich gedreht. Ein wichtiger Grund dafür war, dass | |
eine jüngere Generation in die Mitte der Gesellschaft getreten ist. Die | |
Kriegsgeneration hatte nicht mehr das Sagen. Diese neue Generation war auch | |
diejenige, die diese deutsche Schuld an sich genommen und sich damit | |
verbunden hat. Da sie selbst nicht mehr schuldig war wie die Generation | |
ihrer Eltern, konnte sie die Schuld in Verantwortung umdeuten und neue | |
Formen der Erinnerung aufbauen. | |
Es waren riesige Schritte für die Opfer. | |
Das war eine Wende, die auch von den Opfern ausgelöst wurde. Nach dem Krieg | |
gab es Überlebende, die nur überlebt haben, weil sie gezwungen waren, zu | |
Zeugen zu werden. In den 1980er-Jahren war die Gesellschaft bereit, sie mit | |
mehr Empathie anzuhören. Das passte auch zum biologischen Rhythmus der | |
Opfer, die im Alter noch stärker ihre Erinnerung öffentlich gemacht haben. | |
Sie wurden damals anerkannt. | |
In den 80er kam die Formel von der „Vergangenheit, die nicht vergeht“ hoch. | |
Es ist eigentlich eine Beschreibung für Traumata. Und dieser Begriff wurde | |
in dieser Zeit neu geprägt als ein medizinischer Begriff. Eigentlich kam er | |
aus dem Vietnamkriegs-Kontext. Aber er hat für alle traumatisierten Opfer | |
der Geschichte einen Durchbruch gebracht: Ihr Leid wurde anerkannt. | |
Was war die Beziehung zu anderen Opfern der Geschichte? | |
In den 1990er-Jahren sprach man von Opferkonkurrenz. Das war ein sehr | |
unangenehmer Zustand. Mein Kollege Michael Rothberg entwickelte deshalb die | |
„multidirectional memory“. Warum muss eine Erinnerung die anderen mundtot | |
machen? Die Erkenntnis über ein Traumata kann man doch auf ein anderes | |
übertragen, wie etwa die Erfahrung des Holocaust auf die Kolonialopfer. | |
Damit haben sich die Deutschen bis jetzt nicht beschäftigt. | |
Vortrag „Erinnern oder Vergessen – die ethische Wende in der deutschen | |
Erinnerungskultur“: 19 Uhr, Helmut-Schmidt-Universität, Gebäude H1, Hörsaal | |
5, Holstenhofweg 85 | |
16 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Adèle Cailleteau | |
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