# taz.de -- 160 Euro gegen eine Existenz | |
> Stefan Neitzel ist Fahrradhändler aus Leidenschaft, seine | |
> „Fahrradstation“ gehört seit 1999 zum Inventar der Kreuzberger | |
> Bergmannstraße. Jetzt steht er wegen eines winzigen Fehlbetrags vor dem | |
> Rauswurf – durch die landeseigene Gewobag | |
Bild: „Ich dachte, ich bekomme mal so ’ne Blechmedaille wie in der DDR“: … | |
Von Hans Korfmann | |
Stefan Neitzel liebt Fahrräder. Nach dem Abschluss seines Studiums fuhr er | |
auf einem selbst gebauten Fahrrad von Berlin ins baskische San Sebastián – | |
1.224 Kilometer. Am Morgen des 13. Dezember allerdings sitzt er nicht im | |
Sattel. Er trägt einen schwarzen Mantel und lenkt seinen Seat Leon in | |
rasantem Tempo durch den Verkehr. Als er endlich vor Saal 331 des | |
Landgerichts eintrifft, ist es 9 Uhr 40. Der Raum ist leer, einsam sitzt | |
der Richter am Tisch und schaut vom Bildschirm auf. „Die Verhandlung ist | |
geschlossen. Sie kommen fünf Minuten zu spät.“ | |
Stefan Neitzel ist immer zu spät gekommen, schon als Schüler. Er hat zu | |
viele Ideen im Kopf, zu viele Pläne. Sein Tag bräuchte 36 Stunden. „Wie ist | |
es ausgegangen?“, fragt er. Und der Richter antwortet: „Ich werde der | |
Räumungsklage stattgeben müssen.“ | |
Stefan Neitzel murmelt etwas von Arbeitsplätzen und Mitarbeitern. Davon, | |
dass der Laden, um den es hier geht, die Fahrradstation in der | |
Bergmannstraße 9, seine Existenzgrundlage ist. Der Richter hebt die | |
Schultern. „25 Jahre Arbeit!“, sagt der Fahrradhändler und steigt die | |
steinernen Stufen des Gerichtsgebäudes hinab, „ein Vierteljahrhundert!“ | |
Irgendwann bemerkt er, dass er schon im Keller angekommen ist. „Ich hatte | |
73 Angestellte! Ich dachte, ich bekomme mal so ’ne Blechmedaille wie in der | |
DDR – stattdessen kriegt man ständig ein Brett vor den Kopp!“ | |
Er kehrt um, steigt die Stufen wieder hinauf, passiert mit Tränen in den | |
Augen den Pförtner. Der nickt, höflich, schweigend. Er kennt den Anblick | |
von Menschen, die am Ende sind. Draußen scheint die Sonne, Neitzel sagt: | |
„Man verliert die Lust, wenn man 25 Jahre für etwas kämpft, und dann so | |
was! Vielleicht fange ich einfach noch mal was ganz Neues an.“ | |
## Radverleih seit 25 Jahren | |
So wie damals. 1992. Als die BVG tagelang streikte und nicht nur Stefan | |
Neitzel, sondern alle zu spät kamen. Da kam er auf die Idee, | |
Fahrradstationen zu eröffnen und tageweise Räder zu vermieten, ein | |
Vierteljahrhundert bevor Lidl oder die Chinesen auf die Idee kamen, | |
Fahrräder auf die Straße zu stellen. Zu dritt machten sie in der | |
Kreuzberger Großbeerenstraße einen Laden auf: ein Musikpädagoge, der aus | |
Liebhaberei Fahrradanhänger zusammenschweißte, ein Maschinenbaustudent und | |
Neitzel, der Politikwissenschaftler. Drei Jahre später waren es drei Läden | |
– mit Werkstatt und Verkauf. Und 1999 kam der Laden in der Bergmannstraße | |
hinzu, Neitzels Hauptstation. Neitzels Existenzgrundlage. Im selben Haus, | |
in dem er seit 1987 wohnte. | |
Es sah aus wie ein Gründerzeitmärchen. Doch Stefan Neitzel füllte nicht nur | |
den Laden, sondern auch den Hof mit Fahrrädern. Neid kam auf, in den Augen | |
skeptischer Nachbarn wuchs der antikapitalistische Politologe schnell zum | |
kapitalistischen Großunternehmer. Freunde, mit denen er einst Feste | |
feierte, wurden zu Feinden, die beim Hauseigentümer Beschwerde einreichten | |
– der landeseigenen Gewobag. | |
Der kam das gerade recht – schließlich macht die Wohnungsbaugesellschaft | |
mit ihren zehn Immobilien in der Bergmannstraße gute Geschäfte, seit die | |
Branche die Straße vermarktet, als sei sie die Champs-Elysées. Die | |
Quadratmeterpreise haben sich in den letzten Jahren verdreifacht, die Liste | |
alteingesessener Ladenbesitzer, die wegen überhöhter Mietforderungen die | |
Straße verlassen mussten, ist lang: Es begann vor zehn Jahren mit dem | |
kleinen Edeka-Laden und dem „Rebgarten“, zu den letzten und prominentesten | |
Opfern gehören Schlumms Werkzeugladen aus den 60ern, der Plattenladen | |
„Logo“ aus den 80ern und die „Espresso-Lounge“ aus den 90ern. | |
Schon 2013 wollte die Gewobag den Mietvertrag mit Neitzel auflösen, es | |
bedurfte eines Anwalts, um eine Verlängerung auszuhandeln. Doch diesmal | |
sieht es schlecht aus. Sogar der Fahrradhändler ist skeptisch: „Ich bin ein | |
gnadenloser Optimist! Aber wenn man zu lange auf einem herumhaut …“ Wie in | |
Trance steuert er das Auto zurück nach Kreuzberg. Sein Anwalt ruft an. Es | |
sehe schlecht aus, die Gesetzeslage sei „verwirrend“. Neitzel habe zwar | |
alle Mietrückstände beglichen, die die Gewobag ihm ankreide, aber ein | |
kleiner Rest sei noch übrig. „Letztendlich geht es um 160 Euro.“ Kurz ist | |
es still im Auto. 160 Euro gegen 18 Jahre gezahlter Miete! 160 gegen | |
500.000! „Man kann mir doch nach so vielen Jahren nicht wegen 160 Euro den | |
Laden dichtmachen“, zweifelt Neitzel. „Ja, das ist schon ruppig“, sagt der | |
Anwalt, „ich glaube, die wollen Sie einfach loswerden.“ | |
Neitzel versucht, die Presse einzuschalten. Aber die Pressesprecherinnen | |
dürfen nicht sprechen: „Dazu können wir Ihnen leider keine Auskunft mehr | |
geben“, heißt es am Telefon. Schriftlich teilt man mit: „Auskünfte über | |
Mietverhältnisse können und dürfen wir, insbesondere aus Gründen des | |
Datenschutzes, generell nicht erteilen. … Wir können Ihnen aber versichern, | |
dass die Gewobag als landeseigene Wohnungsbaugesellschaft sehr um das Wohl | |
ihrer Mieterinnen und Mieter bemüht ist.“ Stefan Neitzel wird dagegen | |
zunehmend unwohl. „Die wollen mich totschweigen.“ Das will er verhindern. | |
„Und wenn ich mich gut beleuchtet im Schaufenster meines Ladens aufhängen | |
muss. An einem Galgen mit dem Logo der gemeinnützigen | |
Wohnungsbaugesellschaft.“ | |
Stefan Neitzel hat es schon in der Schule geschafft, die Leute auf seine | |
Seite zu bringen. Die ganze Klasse erschien aus Solidarität mit dem | |
notorisch Unpünktlichen nicht zum Unterricht, bis die Direktion einlenkte. | |
Diesmal startet er eine Unterschriftenaktion, um den Laden zu retten. Und | |
stößt auf Solidarität. „Gib her die Liste!“ Nur die Gewobag ist | |
unsolidarisch und lehnt weiter jedes Gespräch ab. | |
Auch der Mieterrat der Wohnungsbaugesellschaft will sich aus der Sache | |
lieber heraushalten. Nachdem sich der Rat zunächst freut, Neitzel auf der | |
nächsten Sitzung „begrüßen zu dürfen“, wird der bedrängte Fahrradhänd… | |
plötzlich wieder ausgeladen. Man sei der „Vertraulichkeit“ verpflichtet. | |
Immerhin erklärt man sich bereit, einen Brief an den Vorstand zu schreiben. | |
Bei Neitzel bleibt der Eindruck haften, man wolle sich nicht zu weit aus | |
dem Fenster lehnen. Die Fallhöhe ist groß: „Wir sind schließlich auch | |
Mieter bei der Gewobag“, sagt ein Mitglied des Mieterrats, das anonym | |
bleiben will. | |
## Den Handschlag verwehrt | |
Ebenso kleinlaut die Antwort aus der Anwaltskanzlei Borschke, die die | |
Gewobag vor Gericht vertritt: „Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich dazu | |
nichts sagen kann. Ich hänge schließlich an meiner Zulassung!“ Der Einzige, | |
der über die Angelegenheit spricht, ist Neitzels Anwalt Oliver Nawrot. „Das | |
ist schon auffällig“, sagt er, „wie sich die Gewobag in diesem Fall | |
verhält. Einer ihrer Vertreter hat mir sogar den kollegialen Handschlag | |
verwehrt, was äußerst unüblich ist.“ Denn vor Gericht geht es zu wie im | |
Boxring: Erst reicht man sich die Hände, dann geht man aufeinander los. | |
Aber die Gewobag legt offenbar keinen Wert auf Fairness. | |
Sie agiert an einem von Paragrafen gesäumten Rand der Legalität. Sie hat, | |
sagt der Anwalt, „ihre Möglichkeiten im Rahmen der Gesetzmäßigkeit voll | |
ausgeschöpft“, vielleicht die Mietsache im Auftrag ihrer Mandantin „schon | |
geraume Zeit beobachtet“ und nur darauf gewartet, dass Neitzel einen Fehler | |
macht. Um zuzuschlagen. Das ist nicht unrecht, aber unmoralisch. | |
Unmoralisch. Unfair. Unsolidarisch. Unsozial. Asozial. Stefan Neitzel | |
fallen viele Worte ein. Er versucht es weiter mit Briefen, Telefonaten, | |
über Mittelsmänner und über den Anwalt. Aber die Gewobag schweigt. | |
Vergeblich versucht er, Kontakt zur Sachbearbeiterin aufzunehmen, aber: | |
„Durchwahlen geben wir nicht weiter.“ Zimmernummern erst recht nicht. Auch | |
nicht, wenn es ums Überleben geht. Bei Gewerbemietern geht es oft ums | |
Überleben. | |
Die Presseabteilung erklärt indes weiterhin stereotyp, der Firma sei „stets | |
daran gelegen, mit ihren Mieterinnen und Mietern einvernehmliche Lösungen | |
herbeizuführen“. Das vom Gericht noch vorgeschlagene Mediationsverfahren zu | |
einer „einverständlichen Lösung des Konflikts“ hat sie dennoch ohne | |
Begründung abgelehnt. Obwohl es im richterlichen Schreiben hieß, man würde | |
„sich freuen“, wenn die Gewobag „von dieser besonderen Gelegenheit Gebrau… | |
machen würde“. | |
Zuletzt wendet sich der Fahrradhändler an die Politik. Canan Bayram, die | |
grüne Kreuzberger Bundestagsabgeordnete mit Direktmandat die Nachfolgerin | |
Christian Ströbeles, reagiert. Sie schickt am 8. Januar einen Brief an die | |
Gewobag, bedauert die Ablehnung sämtlicher „Gesprächsversuche“, schreibt, | |
dass ein solches Verhalten „im Interesse des Erhalts attraktiver und | |
funktionierender Nachbarschaften bedauerlich“ sei. Selbst wenn es triftige | |
Gründe für eine Kündigung gäbe, spreche doch die „lange Mietzeit von 19 | |
Jahren für ein Wohlverhalten der Fahrradstation“ und dafür, „die | |
Möglichkeit einer gütlichen Einigung … noch einmal gründlich zu erwägen.�… | |
Bayram lädt zu einem Gespräch in den Bundestag ein. | |
Eine Antwort ist bislang ausgeblieben. Und die Zeit wird knapp: Am 19. | |
Januar läuft die Berufungsfrist ab. Dann könnte das am 13. Dezember um 9.40 | |
Uhr gefällte Urteil gegen die Fahrradstation vollstreckt werden und die | |
Gewobag den Laden räumen lassen. Nach 19 Jahren Bergmannstraße. | |
Kommentarlos. Weil der gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft, stolzer | |
Besitzerin von 60.000 Wohnungen und 1.500 Gewerbeeinheiten mit einem | |
Grundkapital von 4 Milliarden Euro, 160 Euro gefehlt haben. | |
15 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Hans Korfmann | |
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