# taz.de -- Akademiker im Hungerstreik: „Über unsere Zukunft entscheidet der… | |
> Am 1. Dezember kam Nuriye Gülmen aus der Untersuchungshaft frei. Die aus | |
> politischen Gründen entlassene Akademikerin befindet sich seit 282 Tagen | |
> im Hungerstreik. Und sie will ihn erst beenden, wenn sie ihren Job zurück | |
> hat. | |
Bild: 282 Tage Hungerstreik: Die Akademikerin Nuriye Gülmen und der Lehrer Sem… | |
Seit dem 8. März sind die Akademikerin Nuriye Gülmen und der Lehrer Semih | |
Özakça im Hungerstreik. Die türkische Justiz erklärte sie zu Terroristen | |
und ließ sie am 23. Mai verhaften. Beide sind zu einem Symbol des | |
Widerstands gegen die Willkür der Erdogan-Regierung. | |
taz.gazete: Mit jedem Tag steigt das Risiko um euer Leben und die Sorge | |
derer, die euch lieben. Wo soll das hinführen? | |
Nuriye Gülmen: Wir können nicht weit in die Zukunft gucken. Wir wollen aber | |
unseren Hungerstreik so lange fortsetzen, bis unsere Forderungen erfüllt | |
sind. Unsere Gesundheit kommt an zweiter Stelle. Wenn sich der Kopf auf | |
eine Sache konzentriert, ist es dadurch möglich, den Körper zu | |
kontrollieren. Ich bin jetzt frei und fühle mich sehr gut. Über unsere | |
Zukunft entscheidet der Weg des Widerstands. Gemeinsam werden wir sehen, | |
wie es weitergeht. | |
Eure Forderung ist unverändert, vielleicht solltest du sie noch einmal | |
nennen. | |
Wir wollen nur unsere Arbeit zurück. Mehr verlangen wir nicht. Es ist nicht | |
besonders schwierig, diese Forderung zu erfüllen. Wir warten immer noch auf | |
das Ergebnis der Kommission, die nach 100 Tagen unseres Hungerstreiks | |
eingesetzt wurde, um unsere Fälle zu überprüfen. Das Ergebnis wird Klarheit | |
bringen. | |
Die Justiz hat Semih Özakça bei der vorangegangenen Verhandlung am 20. | |
Oktober auf freien Fuß gesetzt. Wie ist es dir da ergangen? | |
Natürlich war es einerseits bitter, so viel Unrecht zu erfahren. Aber über | |
seine Freilassung und für unseren Kampf habe ich mich gefreut. Es war gut, | |
dass er wieder sichtbar ist. | |
Wie ist dein Verhältnis zu Semih Özakça? | |
Er ist zu einem Bruder geworden. Es verbindet Menschen, wenn sie sich | |
gemeinsam aufmachen und um jeden Preis den Weg gemeinsam beschreiten. | |
Überzeugung schweißt einen zusammen. Semih wurde zu einem der Menschen, die | |
ich mit am meisten vermisse. Vor der Haft lebten Semih, seine Frau Esra, | |
die genau wie wir noch immer im Hungerstreik ist, und ich in derselben | |
Wohnung. Auch die anderen im Widerstand waren bei uns. Abends besprachen | |
wir, wie wir den Widerstand gestalten sollten. Esra entwarf Pläne für die | |
sozialen Medien, Semih las. Er ist ein richtiger Bücherwurm. | |
Wie ist es, ihn jetzt nicht mehr sehen zu können? | |
Im Laufe der Zeit ließen die gesundheitlichen Umstände es leider nicht mehr | |
zu, dass wir zusammen wohnen. Das ist eine Enttäuschung. Wir empfinden und | |
fühlen dasselbe. | |
Wie ist es dir im Gefängnis und während der Haft im Krankenhaus ergangen? | |
Im Knast wurde ich gleich isoliert. Zuerst waren wir zu dritt, doch die | |
eine wurde freigesprochen, die andere verlegt. Ohne Begleiterinnen und | |
Freundinnen war ich dann allein. Der Beschluss des Europäischen | |
Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) war ein Riesenproblem. Der lautete: | |
„Es besteht Lebensgefahr, aber sie muss nicht freigelassen werden“, da | |
wurde ich auf die Krankenstation in der Anstalt verlegt. | |
Wie war es dort? | |
Du wirst da zwangsweise festgehalten. Einmal in der Stunde kommen sie und | |
gucken nach, ob du gestorben bist. Denn die Situation ist für sie fremd. | |
Die Vorgesetzten wollen das so. Mit der Zeit kamen wir einen Schritt | |
weiter. Ich konnte klarmachen, dass ich nicht krank bin. Aber das waren die | |
guten Tage für mich. Da kam Luft in den Raum. Wie wichtig das ist! Meine | |
Schwester Beyza war als Pflegebegleitung bei mir. Eines Nachts, Beyza las | |
mir gerade vor, da hörten wir Schritte, dann strömten Ärzte herein. Sie | |
wollten mich ins Numune-Krankenhaus Ankara verlegen. | |
Das wolltest du nicht? | |
Auf mich hat keiner gehört! Sie packten das Laken an allen vier Enden und | |
hoben mich auf die Trage. So kam ich auf die Intensivstation 3 im | |
Numune-Krankenhaus. Da lag ich zwischen Schwerstkranken. Manche weinten, | |
stöhnten, schrien die ganze Nacht. Meist waren sie frisch operiert und | |
darum von oben bis unten verbunden. Jeden zweiten Tag starb einer. Ich | |
durfte nicht mal Zeitung lesen. Es gab da gar keine Zeitungen. | |
Als hättenn sie dir den Tod vor Augen zeigen wollen? | |
Ich wurde in das Zimmer für kranke Gefangene verlegt. Da lag ich einen | |
Monat ohne Tageslicht. Ich wusste nicht, ob Nacht oder Tag war. Meine | |
Schwester war da mit mir sozusagen gefangen. In der Zeit habe ich extrem an | |
Gewicht verloren. Allein durch den Stress. Normalerweise nahm ich ein Kilo | |
in zwei Wochen ab, unter den Umständen aber sieben Kilo in zwei Monaten. | |
Wie schätzt du die Reaktionen der Bevölkerung ein? | |
Aus unserer Perspektive lassen sich die gesellschaftlichen Dynamiken nicht | |
beurteilen. Man kann nicht von der gesamten Türkei den gleichen Mut | |
erwarten. Beşiktaş-Fans, die eine Dreiviertelstunde vor dem Spiel für uns | |
ein Transparent hochhielten, wurden festgenommen, und dann hieß es, das sei | |
auch die Ursache für die Vorfälle während des Spiels. Es soll massiv | |
eingeschüchtert werden. Trotzdem stehen alle hinter uns. Ich denke, unser | |
Volk ist sehr sensibel. | |
Eure Anwälte wurden verhaftet. Wie belastend ist das? | |
Während wir auf den Freispruch warten, wurden 17 Anwälte von uns verhaftet. | |
Der Staat hat Angst. Aber da er so brutal attackiert, überwinden die Leute | |
die Mauer der Angst. Unsere Anwälte stehen traditionell auf Seiten des | |
Volkes. Wir stehen zusammen, Schulter an Schulter. Unser Anwalt Engin | |
Gökoğlu sagte vor kurzem: „Ob wir im Knast sind, ist unwichtig, wichtig | |
sind Nuriye und Semih!“ Es ist großartig, solche Menschen um uns zu haben. | |
Das wichtigste ist, dass wir uns wehren können und unsere Hoffnung nicht | |
verlieren. Aus derartigen schwierigen Situationen geht man immer gestärkt | |
hervor. | |
13 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Erk Acarer | |
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Veröffentlichung Journal taz.gazete: Es geht weiter | |
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