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# taz.de -- Zu einfache Erklärungsmuster
> Das schlechte Abschneiden deutscher Grundschüler beider Lesestudie IGLU
> wird mit heterogenen Klassen begründet. Wieder mal. Wann hört das auf?
Gastbeitrag von Mark Terkessidis
Wenn es um die jüngsten, sehr bescheidenen Leistungen an deutschen
Grundschulen ging, entwickelte sich auch mit fortschrittlichen Politikern
oft ein Gespräch der folgenden Art: „Das ist ja klar, woran das liegt.“
„Ach ja?“ „Inklusion und immer mehr Kinder mit Migrationshintergrund.“ …
Präsidentin der Kultusministerkonferenz (CDU) drückte es nach den
Ergebnissen der IGLU-Studie vergangene Woche ähnlich aus: „Die zunehmend
heterogene Schülerschaft stellt die Grundschulen in Deutschland vor große
Herausforderungen.“ Es folgen Appelle an die Bildungsgerechtigkeit, aber
hauptsächlich sorgt man sich um das miese „Ranking“.
Derzeit fühlt man sich zurückversetzt in die Tage des ersten „Pisa-Schocks�…
von 2001. Da gab es in der Öffentlichkeit die Lippenbekenntnisse über die
Selektivität der Schulen, während es hinter den Kulissen gemütlich wurde:
Wenn wir „die“ rausrechnen, dann stehen wir doch gut da. „Die“, das war…
die Kinder aus bildungsfernen Familien und die mit Migrationshintergrund.
Heute sind „die“ mit Migrationshintergrund bei den unter Sechsjährigen in
allen Städten der alten Bundesländer in der Mehrheit. Dennoch wird weiter
so getan, als wären diese Kinder eine Art „nice-to-have“.
## Gastarbeiter, Ausländer, Flüchtlinge
Die Klage über die vielen „Quereinsteiger“, die eine „Herausforderung“
darstellen, ist jahrzehntealt: In den 1970ern waren es die
„Gastarbeiterkinder“. Dann wurden aus denen die „Ausländerkinder“. In …
1990ern litten die Schulen unter den „Flüchtlingskindern“, dann unter denen
„mit Migrationshintergrund“. Und nun sind es erneut die „Kinder mit
Fluchtgeschichte“. Wann kommt die Reform des Bildungssystems, in der sich
der Blick nicht auf die „Problemkinder“ richtet, sondern auf den Umgang mit
Vielheit im System selbst?
Es scheint, als habe das endlose Berichtswesen in Sachen Bildung einen
abstumpfenden Effekt. Seit 15 Jahren ändert sich wenig: Der
Leistungsabstand zwischen Schülern mit Akademikereltern deutscher Herkunft
und solchen aus anderen Kontexten beträgt ein ganzes Schuljahr.
Darüber hinaus zeigen Bildungsstudien wie IQB und IGLU erhebliche Probleme
bei der Diagnostik und bei den Maßnahmen im Umgang mit Heterogenität.
Sonderpädagogischer Förderbedarf wird signifikant häufiger festgestellt bei
Jungen und bei Kindern mit niedrigem sozialem Status. In diesem Sinne hat
schon 2009 eine Umfrage unter Lehrern gezeigt, dass der Name Kevin gleich
die Assoziation „verhaltensauffällig“ auslöst.
Die jüngsten Untersuchungen zeigen auch, wie die Probleme durch eine
Myriade von Sondermaßnahmen bekämpft werden und eben nicht durch eine
systematische Reform. Wie viel Motivation hat die sinnlose Einführung des
achtjährigen Gymnasiums vernichtet? Der Weg zur Inklusion war häufig
planlos; das Know-how aus den Förderschulen wurde nicht integriert. Der
laufende Fortbildungsbedarf wird selten gedeckt.
Ich frage mich, wo der „Aufschrei“ über den Mangel an Bildungsgerechtigkeit
und mittlerweile auch -qualität bleibt. Im Grunde leben wir in einer
neofeudalen Ordnung, in der die Herkunft über die späteren Lebenschancen
entscheidet. Die öffentliche Diskussion wird dominiert von weltfremden
Bildungskritikern, die gegen das verweichlichte Kompetenzgetue wettern und
auf Stoff, Üben und Disziplin pochen – als würden wir im 19. Jahrhundert
leben.
Das deutsche Bildungssystem braucht einen „Vielheitsplan“, in dem jedes
Kind als Quereinsteiger betrachtet wird. Es braucht ein inklusives Konzept
für Spracherwerb, in dem „Deutsch als Zweitsprache“ über Jahre im
Regelunterricht mitläuft. Und es braucht keine weiteren
„Willkommensklassen“, sondern eine konsequente Öffnung der Regelangebote.
Das Bildungssystem ist dramatisch unterfinanziert – eine Schande für ein
reiches Land. 15 Jahre ohne echte Veränderung, in denen die Politik die
Probleme immer wieder mit dem Verweis auf „Heterogenität“ wegdiskutiert.
Der Autor ist Migrationsforscher. Zuletzt erschien von ihm im
Reclam-Verlag: „Nach der Flucht“
13 Dec 2017
## AUTOREN
Mark Terkessidis
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