# taz.de -- Gesellschaftskritik: Akademiker im heiligen Dreieck | |
> Deutschland ist das erste Ziel für verfolgte türkische Akademiker*innen. | |
> Ihre Kritik an Universität und Gesellschaft hört aber auch hier nicht | |
> auf. | |
Bild: „Wir wurden ungerecht behandelt, aber wir sollten nicht vom Opfersein r… | |
Seit der Petition für den Frieden unter dem Motto „Wir machen uns mit | |
diesem Verbrechen nicht gemein!“, die 1.128 Wissenschaftler*innen im Januar | |
2016 unterzeichneten, sind die Arbeits- und Lebensbedingungen für | |
Akademiker*innen in der Türkei durch Ermittlungen, Verhaftungen, | |
Entlassungen und Suspendierungen erschwert. Im Land engagieren sich viele | |
entlassene Wissenschaftler*innen mit Solidaritätsakademien und auf neuen | |
Tätigkeitsfeldern weiter; auch ihre nach Deutschland gekommenen | |
Kolleg*innen sind Teil dieses Kampfes. | |
Die aus der Türkei nach Deutschland ausgewanderten Wissenschaftler*innen | |
werden hier vielfach als „Opfer“ gesehen, haben Probleme mit der Bürokratie | |
und stehen damit, anders als Erdoğan, nicht im Fokus der deutschen | |
Öffentlichkeit. | |
## Die Opfer, der Diktator und der Retter | |
Nil Mutluer, Leiterin des Fachbereichs Soziologie an der | |
Nişantaşı-Universität Istanbul, wurde wegen ihrer Unterschrift unter der | |
Petition entlassen. Jetzt lehrt sie an der Humboldt-Universität zu Berlin | |
und hält Seminare über die moderne Türkei und Überschneidungsräume von | |
Sexualität und Geschlecht. | |
Seit anderthalb Jahren ist sie in Deutschland. Sie erzählt von ihren | |
bisherigen Erfahrungen: „In den Medien, an der Hochschule, in der | |
Bürokratie und in der Mainstreamgesellschaft zeigt sich das heilige | |
Dreieck: Es gibt ein Opfer, das sind wir; es gibt einen Diktator, Erdoğan; | |
und es gibt einen Retter, das ist ‚der Westen‘.“ | |
Mutluer klagt, dass sie mit den Botschaften, die sie über die Medien | |
verbreiten, die Öffentlichkeit nicht wie gewünscht erreichen. Man versuche, | |
sie in Stereotype zu pressen. Erdoğan halte man zwar für schlimm, glaube | |
aber, über seine Partner, über die institutionelle Struktur und die | |
Einzelheiten gar nicht reden zu müssen. | |
## Raus aus dem Wissenschaftsexil | |
Sie betont, dass Themen wie die kurdische Sache, die Uneindeutigkeit der | |
Ereignisse in der Türkei oder Rüstungsverträge medial nicht ausreichend | |
beachtet werden. „Wir wurden und werden ungerecht behandelt und geschädigt, | |
aber wir sollten nicht vom Opfersein reden“, sagt Mutluer, denn auf diesem | |
Diskurs lasse sich nichts Neues aufbauen. | |
„Deutschland kann mir Respekt erweisen, indem es mir die Möglichkeit gibt, | |
meine Arbeit fortzusetzen. Institutionell hat man das getan, doch wir | |
erwarten, dass man auch unsere Stimmen hört. Um das Hochschulwesen in | |
Deutschland internationaler zu machen, müssen wir unser Wissen einbringen | |
können und müssen aus dem Status des Wissenschaftsexils heraus“, erklärt | |
sie. | |
Die Situation berge die Chance zum Wandel: „Das Potenzial zur Überwindung | |
des ‚heiligen Dreiecks‘ ist da. Derzeit kommen unzählige kritische | |
Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, Künstler*innen nicht nur aus der | |
Türkei nach Deutschland, sondern auch aus Syrien, aus dem Jemen, aus vielen | |
anderen Ländern mehr. Das sollten wir als Chance verstehen. Daraus kann | |
neues systematisches Wissen entstehen.“ | |
## Unter der Fuchtel des Neoliberalismus | |
Zeynep Kıvılcım wurde von der Fakultät für Politikwissenschaft an der | |
Universität Istanbul suspendiert. Vor einem Jahr kam sie nach Berlin, hier | |
unterrichtet sie an verschiedenen Hochschulen und forscht derzeit über das | |
Thema „Flüchtlingsabkommen EU/Türkei“. Das Hochschulwesen in beiden Länd… | |
stehe unter der Fuchtel des neoliberalen Systems, meint sie. | |
Ihrer Erfahrung nach liege aber hier der größte Unterschied: „In der Türkei | |
wehrt man sich ernsthaft gegen dieses System. Es überrascht, dass man an | |
den Universitäten in Deutschland kaum gegen die neoliberale Wende angeht.“ | |
Als eklatantes Beispiel dafür erwähnt sie, dass die Jobgarantien, die in | |
der Türkei errungen wurden, in Deutschland ausschließlich Professoren | |
genießen, die zudem meistens männlich seien. | |
„Einträgliche Projekte bekommen an den Universitäten die Professoren. Die | |
Beziehung zum Professor entscheidet maßgeblich darüber, ob man in einem | |
Projekt dabei ist. Selbst bei Mitarbeit in mehr als einem Projekt sind | |
Postdoktoranden die Gruppe mit den prekärsten Beschäftigungsverhältnissen. | |
Es gibt nur befristete Verträge. Wenn man sich aber bereits nach Neuem | |
umgucken muss, während man noch unter Vertrag steht, schwindet das Gefühl | |
von Sicherheit.“ | |
## Zum Asylantrag gedrängt | |
Diese Unsicherheit zeige sich auch immer wieder im Blick deutscher | |
Kolleg*innen auf sie, meint Kıvılcım; die Sicht auf die türkischen | |
Kolleg*innen als „Opfer“ spreche aus Fragen wie: „Wo wohnst du? Ist das | |
Viertel nicht zu teuer für dich?“Sie berichtet, dass viele | |
Wissenschaftler*innen aus der Türkei gedrängt werden, einen Asylantrag zu | |
stellen, und verweist dazu auf die Worte eines befreundeten deutschen | |
Juristen: | |
„Das System hier ist nicht darauf ausgerichtet, Migrant*innen in | |
Deutschland zu integrieren, sondern darauf, sie an den Rand der | |
Gesellschaft zu drängen. Dagegen wehren sie sich, wenn sie hier eine | |
Aufenthaltserlaubnis fordern. Sie wollen hier in der Mitte der Gesellschaft | |
ankommen. Das System wehrt sich dagegen und stößt dich zurück.“ | |
Eine Wissenschaftlerin wusste, dass sie, wenn sie einen Asylantrag stellt, | |
für lange Zeit nicht in die Türkei zurück kann, es aber trotzdem tat, weil | |
sie dem Versprechen deutscher Regierungsvertreter vertraute, | |
Wissenschaftler*innen aus der Türkei hier zu helfen. | |
## Mangel an Informationen | |
„Nach dem Antrag musste ich aber erleben, dass dem gar nicht so ist“, sagt | |
die Akademikerin, die anonym bleiben möchte. „Als Mensch wirst du | |
annulliert. Plötzlich stand die Wand der Bürokratie vor mir. Es ist völlig | |
egal, ob du als Frau oder Mann, als politischer oder unpolitischer Mensch | |
oder als WissenschaftlerIn den Antrag stellst.“ | |
Der Mangel an Informationen während des Asylverfahrens sei das Schlimmste. | |
Gleich danach komme das Problem des Zugangs zu Quellen, aus denen man sich | |
über seine Rechte informieren kann. Den habe sie nur durch gute Kontakte | |
erhalten. | |
Mit Dolmetscher*innen ohne ausreichende Türkischkenntnisse habe sie | |
besorgniserregende Erfahrungen gemacht: „Der für mich zuständige | |
Dolmetscher stellte mir aus Neugier viel zu viele Fragen nach dem Motto: | |
‚Woher kommst du? Warum bist du hier? Worum geht es in deinem Fall?‘ Er | |
sagte, dass er einfach aus Interesse frage. | |
## Dolmetscher und türkischer Geheimdienst | |
Am nächsten Tag aber wurde meine Familie in der Türkei von | |
Sicherheitskräften belästigt. Am Telefon wurde gefragt, wo ich sei. Ich | |
will niemanden verdächtigen, aber als ich von dem Skandal erfuhr, war ich | |
in extrem großer Sorge.“ | |
Ähnliche Vorkommnisse waren kurz zuvor durch die deutschen Medien gegangen. | |
Auf tagesschau.de hieß es, der türkische Geheimdienst versuche, über | |
Dolmetscher an Informationen deutscher Behörden heranzukommen. | |
Da sich die Wissenschaftlerin in Auffanglagern während der Wartezeit nicht | |
sicher fühle und Angst vor Belästigung habe, hat sie die Formalitäten für | |
ihre Aufnahme noch nicht erledigt. Mittlerweile sage sie sich oft: „Hätte | |
ich bloß nie einen Asylantrag gestellt!“ | |
## Solidarität als einziger Ausweg | |
„Immer wenn ich etwas fordere, gegen irgendetwas Widerspruch einlege, eine | |
Erklärung erwarte oder meinen Titel verwenden möchte, fühle ich mich | |
diskriminiert“, berichtet die Wissenschaftlerin. Wenn sie ihren Doktortitel | |
angebe, reagierten Leute mit Sprüchen wie: „Hi doctor, I have a headache.“ | |
Der Asylantrag, der nur ihre Verbindung zum Staat ist, werde in eine | |
Identitätszuschreibung umgewandelt. Es störe sie aber, ausschließlich als | |
Asylbewerberin definiert zu werden: „In dieser Phase sehe ich keinen | |
anderen Ausweg, als sich zu solidarisieren, sich gemeinsam zu engagieren, | |
gegenseitig auf sich Acht zu geben, einander zu schützen und zu | |
unterstützen.“ | |
Auf jedem Gebiet engagieren sich die Wissenschaftler*innen weiter. Muzaffer | |
Kaya, der nach Unterzeichnung der Petition aus der Abteilung Soziale | |
Dienste der Nişantaşı-Universität entlassen wurde und 40 Tage inhaftiert | |
war, forscht seit einem Jahr an der TU Berlin über „Politische | |
Polarisierung der MigrantInnen aus der Türkei“. | |
## Kritische Denkfabriken | |
Kaya berichtet, bei seiner Ankunft habe er die Deutschland-Gruppe der | |
Wissenschaftler*innen für den Frieden (BAK) kennengelernt, die gebildet | |
worden war, um effektiver Solidarität mit den Unterzeichnenden aus der | |
Türkei und aus Deutschland üben zu können. | |
Seit einem Jahr ist er in der Gruppe aktiv. Deren vorrangiges Ziel sei es, | |
sich für die Kolleg*innen in der Türkei einzusetzen. Als erster Schritt in | |
diese Richtung soll das kürzlich ins Leben gerufene Onlinebildungsportal | |
Off-University zu einer Institution ausgeweitet werden, an der in der | |
Türkei entlassene WissenschaftlerInnen unterrichten können. | |
Zugleich soll hier kritisches Wissen produziert werden. In Berlin soll | |
etwas Ähnliches wie die von entlassenen Wissenschaftler*innen bereits in | |
acht Provinzen der Türkei eingerichteten Solidaritätsakademien aufgebaut | |
werden. | |
## Demokratische Netzwerke | |
Der zweite Schritt bezieht sich auf den Deutschland-Verband der BAK. Kaya | |
sagt, er könne sowohl eine Rolle bei der Organisation der finanziellen | |
Unterstützung für den Verein übernehmen, wie später auch weitere | |
akademische oder politische Aufgaben. | |
Kaya berichtet von Bestrebungen, Verbindungen zu demokratischen Kreisen | |
türkeistämmiger Menschen in Deutschland wie auch zu hiesigen demokratischen | |
und linken deutschen WissenschaftlerInnen und Institutionen aufzubauen, die | |
stetig vorankommen. | |
„Wir wollen die demokratische Öffentlichkeit in Europa auf die | |
Menschenrechtsverletzungen in der Türkei aufmerksam machen. Dazu stehen wir | |
in ständigem Austausch mit Kolleg*innen in der Türkei, die die Petition | |
unterzeichnet haben. Im Augenblick bemühen wir uns um internationale | |
Unterstützung für jene Kolleg*innen, deren Prozesse jetzt im Dezember | |
beginnen. Unsere Aktivitäten hier richten sich maßgeblich an dem aus, was | |
das Engagement in der Türkei gerade erfordert.“ | |
## Globaler Kampf für Gerechtigkeit | |
Die nach Deutschland gekommenen Wissenschaftler*innen sind trotz ihres | |
Exils weiterhin in die Bewegungen in der Türkei involviert. Neben dem Kampf | |
mit dem Alltag in Deutschland setzen sie sich weiter für den dortigen Kampf | |
der Akademiker*innen ein. | |
Und nicht nur dort. Die Solidarität der verfolgten Wissenschaftler*innen | |
ist mittlerweile eine internationale. Es sind für die Zukunft des | |
Hochschulwesens Hoffnung machende Momente und ein Beispiel, wie der Kampf | |
um Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt geführt werden kann. | |
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe | |
12 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Beyza Kural | |
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Schwerpunkt Türkei | |
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