# taz.de -- FlüchtendewerdenzuRepräsentantengemacht | |
> Négar Djavadi musste nach der Revolution von 1979 den Iran verlassen: | |
> Ihre Eltern, Gegner des Schahs, waren zur Zielscheibe von Chomeinis | |
> Milizen geworden. Kimiâ, die Ich-Erzählerin ihres Debütromans | |
> „Desorientale“, verknüpft über ein Jahrhundert hinweg die Geschichte | |
> ihrer Familie mit der des Irans | |
Bild: Ein ganzes Jahrhundert erzählen, um die Gründe und die Auswirkungen der… | |
InterviewElise Graton | |
taz am wochenende: Frau Djavadi, man ahnt viele Parallelen zwischen Ihrem | |
Roman „Desorientale“ und Ihrem persönlichen Werdegang. Wie autobiografisch | |
ist Ihr Buch? | |
Négar Djavadi: Gar nicht. Ich wäre früher nur zu gerne wie meine | |
Protagonistin Kimiâ gewesen: jemand, der diese Freiheit gehabt hätte, | |
umherzuschweifen und die Welt auf eigene Art zu erobern. Jedenfalls wollte | |
ich nicht meine persönliche Geschichte schreiben. | |
Warum nicht? | |
Das empfand ich als vermessen. Wie Kimiâ habe ich eine Revolution erlebt, | |
wie sie bin ich aus dem Iran über die Berge geflüchtet und musste mich im | |
französischen Exil neu sortieren. So furchtbar diese Erfahrungen auch | |
waren, jeder hat eine eigene Geschichte, und manche sind weit schlimmer als | |
es meine ist. Was meiner Familie zugestoßen ist, hatte keine inneren, | |
sondern äußere Gründe: Wegen eines politischen Regimes sind wir geflohen. | |
Wenn man das überlebt und dabei den Verstand nicht verloren hat, dann ist | |
das Drama ein fernes. | |
Die Notwendigkeit wie auch die Hemmung, die Flucht und ihre Ursachen zu | |
erzählen, ist ein grundlegendes Thema Ihres Romans. | |
Als Kind damals im Iran sah und wusste ich genau, was los war. Mein Vater | |
war Oppositioneller, zunächst gegen das Schah-Regime, dann gegen das von | |
Chomeini. Er musste oft in den Untergrund abtauchen, meine Mutter manchmal | |
auch, und sie machten kein Geheimnis daraus, dass uns deswegen | |
Schreckliches passieren könnte. Früh genug lernten meine Schwester und ich, | |
wen wir im Notfall anrufen sollten und wo unsere Reisepässe waren. Erst im | |
Exil kamen Sprachtabus auf. Es gab keine Antworten, weil es keine Fragen | |
mehr gab. Wann fahren wir? Das war keine Frage mehr. Alles hing in der | |
Schwebe. | |
Das wurde nie diskutiert? | |
Dem Tumult, in den uns meine Eltern gerissen hatten, folgte ein Zustand | |
tiefer Erstarrung. Frankreich war nicht das, was sie sich nach ihrer | |
Lektüre von Rousseau oder Victor Hugo vorgestellt hatten. Ich kam mitten im | |
Schuljahr in die Klasse, sprach nur mittelmäßig Französisch und musste | |
allein mit den schrägen Blicken meiner Mitschüler klarkommen. Jeder war mit | |
sich selbst beschäftigt. | |
Die Leser folgen Kimiâ von ihrer Geburt an, bis sie selbst über eine | |
Schwangerschaft nachzudenken beginnt. Ihre Familiengeschichte wird über | |
vier Generationen erzählt. Warum holen Sie so weit aus? | |
Um die Revolution von 1979 erklären zu können, muss man auf den | |
Staatsstreich von 1953 zurückblicken, wobei die Machtergreifung der | |
Pahlavi-Dynastie 1925 auch nicht unerwähnt bleiben darf. Solch komplexe | |
Inhalte lassen sich über eine Familiensaga einfach besser veranschaulichen. | |
So konnte ich auch lebendiger darstellen, wie das Land im Laufe des 20. | |
Jahrhunderts vom Feudalismus über die Modernität bis in ein islamisches | |
Regime überging. | |
Was hat Sie zu diesem ambitionierten Vorhaben motiviert? | |
In Paris musste ich mir oft anhören: Ach, du bist Iranerin, fällt es dir | |
nicht schwer, kein Kopftuch mehr zu tragen? Paradox, aber wahr: Man | |
flüchtet vor einem Regime und wird dann zu dessen Repräsentantin. Ständig | |
musste ich mich rechtfertigen und erklären. Mit dem Buch habe ich es ein | |
für allemal getan. | |
Ihr Bericht reicht bis in die jüngste Gegenwart: „Die Schockwelle der | |
iranischen Revolution sollte Amerika zum Erzittern bringen“, sagt Kimiâ | |
vier Tage vor dem 11. September. Hat die aktuelle Konfliktlage ihre Wurzeln | |
im Iran? | |
Ich denke schon, dass die Machtergreifung Chomeinis ein entscheidender | |
Auslöser für das Ganze war. Die Kräfteverhältnisse im Nahen Osten haben | |
sich ab dem Moment gewandelt. Oft wird übersehen, was diese Revolution mit | |
sich gebracht hat: die Anschläge, die Hisbollah, die islamistische | |
Propaganda. Um das Monster zu bekämpfen, wurden Waffen an Saddam Hussein | |
verkauft, der selbst zum Monster wurde. Der Westen hat eine Begabung, | |
Monster zu kreieren, die ihn später zu verschlucken drohen. | |
Eine umstrittene These. | |
Es herrscht mehrheitlich der Wille, sich nicht zu erinnern, sich nicht mit | |
der eigenen Kolonialvergangenheit und der Mitverantwortung zur Lage im | |
Nahen Osten und im Maghreb auseinanderzusetzen. Bei dem Thema bleibt der | |
Orient größtenteils unter sich. Zudem hat auch nicht jeder Lust, sich zum | |
Sprachrohr machen zu lassen. Schnell wird das zur Etikette und man kann es | |
vergessen, je wieder über etwas anderes reden zu dürfen. Auch ich als | |
Drehbuchautorin habe zunächst bewusst französische Familien ins Zentrum | |
meiner Filme gerückt, um dadurch die Legitimität zu erlangen, nicht | |
ausschließlich vom Iran erzählen zu müssen. | |
„Desorientale“ ist Ihr erster Roman. Wie kam es zum Genrewechsel? | |
Das nötige Budget für einen Film hätte ich nie bekommen. Außerdem ist Kino | |
sehr formatiert; es gibt Regeln, die exakt besagen, was zum Beispiel nach | |
Minute zehn passieren soll, und was nicht. Für dieses Projekt aber brauchte | |
ich eine größere formelle Freiheit, als sie der Film bietet, um Kimiâs | |
Gedankenflut den nötigen Raum zu schaffen. Zunächst war ich sehr | |
verunsichert, ob ich es packen würde. In der französischen Literatur | |
beginnen Geschichten oft mit der Handlung. In der persischen Literatur | |
hingegen bilden eher die Figuren den Ausgangspunkt. Ich hatte Mühe, diese | |
verschiedenen Herangehensweisen zu vereinbaren. | |
Kimiâs Schilderungen der Iraner und der Franzosen sind informativ, | |
teilweise sehr lustig, oft aber auch beklemmend, als seien die Kulturen | |
hermetisch voneinander getrennt. | |
Sie spiegeln die Art wider, wie Kimiâ wahrgenommen wird, die Tatsache, dass | |
die eigene Identität oft eher von den anderen definiert wird. Der | |
Terrorismus und die Angst haben nun das Ganze homogenisiert. Der Migrant | |
ist zum Feind geworden. | |
„Desorientale“ spiegelt auch aktuelle Geschehnisse wider: der Stift als | |
Waffe, der Krieg in Syrien, die Behandlung der Flüchtlinge und den Aufstieg | |
diverser Extremismen. Was ist Ihr Gefühl zu diesen Entwicklungen? | |
Vor allem muss ich mich sehr darüber wundern, dass man mal wieder eine | |
Handvoll Menschen, die man Migranten nennt, zum Sündenbock macht. Den | |
Begriff lehne ich nicht ab, aber wenn man Migrant sagt, wirkt das wie Volk, | |
wie Invasoren. Dabei kommen die Menschen aus verschiedenen Horizonten und | |
haben unterschiedlichen Gründe. Durch diese Nichtdifferenzierung werden die | |
Herkunftsländer aus ihrer Verantwortung entlassen – und der Westen kann | |
weiter Geschäfte mit ihnen machen. Französische und deutsche Firmen | |
expandieren in den Iran, während Iraner weiterhin auswandern. Vergangenes | |
Jahr war Präsident Hassan Ruhani auf Staatsbesuch in Frankreich, um | |
Verträge mit der Industrie zu unterschreiben, doch keiner kam auf die Idee, | |
ihm vorzuschlagen, bei der Gelegenheit mal in Calais vorbeizuschauen. Es | |
ist, als kämen die Migranten aus dem Nichts. Sie werden zu fiktiven Figuren | |
gemacht, zu Zombies. | |
2 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Elise Graton | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |