# taz.de -- Der Brexit und die Grüne Soße | |
> 10.000 neue Banker? 100.000 neue Jobs? Ein paar hundert neue | |
> Restaurants?Nach dem Brexit schwankt Frankfurt zwischen Manie und | |
> Depression | |
Bild: Vom Rotlichtviertel am Bahnhof blickt man auf den Finanzdistrikt. Hier Ma… | |
Von Alem Grabovac | |
Im Frankfurter Ostend erkennt meine Mutter nichts wieder. Anfang der 80er | |
Jahre haben wir in der Hanauer Landstraße gelebt. „Weißt du noch, wie | |
dreckig und heruntergekommen es hier aussah?“, fragt sie. Früher waren die | |
Fassaden der Häuser nicht gemacht, zwischen Ausfallstraße und Main war eine | |
große Brachfläche. „Damals“, sagt meine kroatische Mutter, „haben nur w… | |
Ausländer und Fabrikarbeiter hier gewohnt.“ | |
Früher arbeitete man im Ostend auf dem Bau oder als Putzfrau, heute bei der | |
Europäischen Zentralbank. Vor ein paar Jahren zog die EZB her, mit ihr ein | |
komplett neuer Stadtteil. Überall Glas, überall Bioeinkaufstüten, alles | |
durchsaniert. „Viele meiner Kolleginnen mussten wegen der steigenden Mieten | |
wegziehen“, sagt Mutter. | |
Mutter, 1949 im kroatischen Hinterland geboren, arbeitete als | |
Montagearbeiterin und Kontrolleurin beim Autozulieferer VDO. Seit vierzig | |
Jahren lebt sie am Main. In dieser Zeit ist sie zu einer richtigen | |
Lokalpatriotin geworden. | |
Das Ostend hat sich massiv verändert. „Und jetzt, nach dem Brexit, ist | |
alles noch verrückter geworden“, sagt meine Mutter. Viele fragen sich: Kann | |
man wegen der ganzen Briten bald nicht mehr in der Stadt wohnen? Oder | |
kommen gar nicht so viele? „Jedenfalls reden alle nur noch über den | |
Brexit“, sagt sie. | |
Mutter hat natürlich wie immer recht: Seit dem Votum der Briten scheint | |
sich in dieser Stadt tatsächlich alles nur noch um die Auswirkungen des | |
Brexits zu drehen. Frankfurt befindet sich in einer verführerischen | |
Goldgräberstimmung, die wöchentlich durch neue Zukunftsanalysen gefüttert | |
wird. | |
Die Standortinitiative Frankfurt Main Finance rechnet mit 10.000 | |
zusätzlichen Bankern. Die Frankfurt School of Finance kalkuliert mit 20.000 | |
Jobs. Die Otto Beisheim School of Management geht gar davon aus, dass jeder | |
zusätzliche Arbeitsplatz in der Frankfurter Finanzindustrie zwischen 3,6 | |
und 8,8 weitere Jobs bringen werde. So könnten neben den 10.000 neuen | |
Finanzarbeitsplätzen bis zu 88.000 neue Jobs in und um Frankfurt entstehen, | |
vor allem im Dienstleistungsgewerbe. Der Frankfurter Oberbürgermeister | |
Peter Feldmann bezeichnete diese Zahlen in einem Interview als „frei | |
erfunden“. Der Zuzug werde bestenfalls den Stellenabbau der Geldhäuser, der | |
durch die Finanzkrise entstanden ist, ausgleichen. | |
Wie sieht es in der Praxis aus? Ich treffe Markus Kullmann, 34. Er leitet | |
ein Team von 25 Bürovermietungs-Spezialisten beim Beratungsunternehmen JLL. | |
Seit dem Brexit-Votum, sagt er, sei das Interesse an Frankfurt gestiegen. | |
Immer häufiger führt er Managergruppen diverser Großbanken aus London, | |
Japan und den USA zu Fuß oder per Segway durch die Stadt, zeigt ihnen den | |
Römer, die Alte Oper und Büroflächen. Diese Gruppen schauen sich allerdings | |
auch Amsterdam, Dublin, Warschau und Paris an. „Wir gehen davon aus“, sagt | |
Kullmann, „dass trotz der starken innereuropäischen Konkurrenz am Ende | |
50.000 bis 100.000 Quadratmeter Bürofläche in Frankfurt brexitbedingt neu | |
vermietet werden können.“ Noch gebe es allerdings, obwohl sich die Lage in | |
den vergangenen 12 Monaten deutlich verbessert habe, einen relativ großen | |
Leerstand bei den Büroflächen. Und eine Preisexplosion auf dem Mietmarkt | |
sei noch nicht zu erkennen. | |
Kullmann glaubt nicht an einen „reinen Move von London nach Frankfurt“. | |
London werde auch nach dem Brexit eines der wichtigsten Finanzzentren der | |
Welt bleiben, einige Jobs werden sich auf europäische Städte wie Dublin, | |
Amsterdam, Paris und Frankfurt verteilen. Wenn ein Chef zu einem | |
erfolgreichen Broker, der seit 20 Jahren in London lebt, dort sein Netzwerk | |
und seine Familie hat, sagen würde: „2019 sitzt du in Frankfurt“, würde | |
dieser, laut Kullmann, wahrscheinlich antworten: „Vielen Dank für diese | |
wunderbare Perspektive. Aber dann suche ich mir für 2019 mal lieber einen | |
anderen Job in London.“ Die neuen Arbeitsplätze in Frankfurt, sagt | |
Kullmann, werden vermutlich eher mit Finanzexperten aus der Region besetzt | |
werden. | |
Es kommen also gar keine Briten? Ich sitze mit Michael Gehrig, Mitglied des | |
Vorstands und Geschäftsführer der Deutsch-Britischen Gesellschaft | |
Rhein-Main, in einem Café unter dem Messeturm. Im Gegensatz zu Kullmann ist | |
er davon überzeugt, dass viele Briten ihren Lebensmittelpunkt nach | |
Frankfurt verlagern werden. Schon jetzt bekomme er immer mehr Anfragen aus | |
England: Wie lebt es sich denn da? | |
Gehrig glaubt, dass in den nächsten zehn Jahren bis zu 10.000 | |
Arbeitsstellen im Finanzsektor entstehen könnten. Um den sozialen Frieden | |
in Frankfurt zu erhalten, müsse die Politik dafür sorgen, dass jene | |
Menschen aus dem Dienstleistungsgewerbe, das sich um die Banken herum | |
gebildet hat, nicht durch steigende Mietpreise aus der Stadt verdrängt | |
werden. Die Angst vor Gentrifizierung sei allgegenwärtig in der Stadt. | |
Es ist klar, dass sich Frankfurt durch den Brexit verändern wird. Doch | |
niemand weiß genau, wie. Diese Ungewissheit versetzt die Frankfurter seit | |
Monaten in eine geradezu manisch-depressive Stimmungslage. Manisch wird die | |
Stadt immer dann, wenn ein Geldinstitut sich für Frankfurt entscheidet. Als | |
drei große japanische Finanzhäuser verkündeten, ihren Europasitz mit | |
einigen hundert Mitarbeitern nach Frankfurt zu verlegen, wurde dies in der | |
Lokalpresse so euphorisch gefeiert wie ein Sieg der Eintracht. Große | |
Begeisterung löste auch eine kürzlich verschickte Twittermeldung des | |
Vorstandsvorsitzenden von Goldman Sachs aus. In dem Tweet von Lloyd | |
Blankfein stand: „Just left Frankfurt. Great meetings, great weather, | |
really enjoyed it. Good, because I’ll be spending a lot more time there. | |
#Brexit.“ Inzwischen hat die Bank bekannt gegeben, dass sie vom Messeturm, | |
in dem bisher 200 Banker beschäftigt waren, in den neuen Marienturm mit | |
ungefähr 700 Mitarbeitern umziehen wird. Die Schlagzeile am nächsten Tag: | |
„Goldman Sachs eröffnet Run auf Frankfurt.“ | |
Depressiv wird die Stadt immer dann, wenn sich, wie im Falle der Barclays | |
Bank, ein Geldinstitut für einen europäischen Mitbewerber wie Dublin | |
entscheidet. Und jetzt soll auch noch die Europäische Bankenaufsicht nach | |
Paris gehen. Der ständige Vergleich mit Weltmetropolen trifft die | |
Frankfurter hart. Frankfurt, schreiben besonders die britischen Blätter, | |
sei einfach nur langweilig und provinziell. Auch der britische Chef der | |
Deutschen Bank schaltete sich in die Diskussion ein. Frankfurt brauche, | |
sagte Opernliebhaber John Cyran, mindestens „ein Dutzend zusätzlicher | |
Theater“, um die Londoner davon zu überzeugen, mit ihren Familien | |
umzuziehen. | |
Doch nicht nur geistig-kulturell, auch kulinarisch habe die Stadt einen | |
erheblichen Nachholbedarf. Die Londoner, so der Brite Cyran, seien es | |
nämlich gewohnt, abends auswärts zu essen. Kaum ein Banker würde zu Hause | |
kochen. Aus diesem Grund wandte er sich an alle Frankfurter und forderte | |
sie auf, nicht ein, zwei, drei oder vier, sondern „ein paar hundert neue | |
Restaurants“ zu eröffnen. Die Lokalpresse reagierte säuerlich: „Da hatte | |
wohl jemand ein paar Spritzer Essig zu viel auf seinen Fish and Chips!“ | |
Am Abend sitze ich mit Mutter in ihrer Wohnung in der Rothschildallee im | |
Nordend, in die sie vom Frankfurter Osten aus gezogen ist. Sie hat gekocht. | |
Es gibt Lachssteak mit Bratkartoffeln und gemischten Salat. „Schmeckt | |
lecker“, sage ich zu Mutter. Ich erzähle ihr von Cyrans Vorschlag: | |
„Vielleicht solltest du ein Restaurant eröffnen.“ | |
„So ein Quatsch“, antwortet sie. „Wenn die Londoner Banker gut essen | |
wollen, brauchen die nur in die Kleinmarkthalle zu gehen.“ Dort gibt es | |
Steaks, Fisch, Austern, Sekt und Champagner. „Und die Wurst-Ilse“, sagt | |
Mutter, „hat die allerbesten Krakauer und die allerbeste heiße Fleischwurst | |
in der ganzen Stadt. Und für die Vegetarier haben wir die Grüne Soße.“ | |
Die Grüne Soße, bestehend aus Schnittlauch, Borretsch, Pimpinelle, Kerbel, | |
Sauerampfer, Petersilie und Kresse, ist eine Art Heiligtum in Frankfurt. | |
Sie hat einen eigenen Feiertag, sie hat ein Denkmal, im Juni gab es einen | |
Weltrekordversuch und ein Event mit dem Namen „Grüne Soße der Kulturen“. | |
Frankfurts Einwanderer interpretierten die Soße neu: So entstanden | |
Frühlingsrollen, argentinisches Steak und Ravioli mit Grüner Soße. Es ist | |
nicht auszuschließen, dass sie auch zu Fish and Chips passt. | |
25 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Alem Grabovac | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |