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# taz.de -- Das Gewicht des 20. Jahrhunderts
> Eine Symphonie der Kindheit: Die romanhaften Erinnerungen des ungarischen
> Schriftstellers Péter Nádas
Bild: Ein verunglücktes Flugzeug auf dem Dach eines Wohnhauses in Budapest End…
Von Tobias Schwartz
Manchmal sind Bücher wie große, komplexe Musikkompositionen. Gustav Mahler
sagte einmal, er wolle Werke schaffen, in denen sich die ganze Welt in all
ihrer Weite, Tiefe und Schwere spiegele. Darunter machte er es nicht und
entsprechend monumental und überwältigend gerieten seine Symphonien.
In der Literatur der klassischen Moderne finden sich leicht Beispiele, die
sich in Hinblick auf die Absolutheit von Anspruch und Form mit dem groß
angelegten kompositorischen Schaffen Mahlers vergleichen ließen, das auch
Ironie und Humor aufweist. Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ etwa,
Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ oder auch noch
Thomas Manns „Doktor Faustus“. In der Gegenwartsliteratur ist das schon
schwieriger. Der ungarische Schriftsteller und Fotograf Péter Nádas aber,
der seit Jahren als aussichtsreicher Anwärter auf den Literaturnobelpreis
gehandelt wird, lässt sich ohne Weiteres neben Musil, Proust und Mann
einreihen – genau gelesen hat er seine literarischen Vorväter jedenfalls
alle.
Erst 2012 erschien auf Deutsch sein rund 1.700 Seiten langer
Monumentalroman „Parallelgeschichten“, eine abgründige, überwiegend in
Budapest angesiedelte Familiengeschichte und gleichzeitig eine Art Abriss
des europäischen 20. Jahrhunderts, vor allem der Schattenseiten jenes
schicksalhaften Säkulums. 17 Jahre hatte Nádas daran gearbeitet. Jetzt
folgen seine kaum weniger monumental ausfallenden Kindheitserinnerungen mit
dem understatementhaften Titel „Aufleuchtende Details“, meisterhaft
übersetzt von Christina Viragh, die schon die „Parallelgeschichten“
preisgekrönt ins Deutsche übertragen hatte. Das Buch beginnt mit einem so
lust- wie schmerzvollen Sonntagsessen des kleinen Péter bei seinen
Großeltern und endet mit dem Ungarnaufstand von 1956, der auch in
Nádas’„Buch der Erinnerung“ von 1986 eine zentrale Rolle spielt. Die kna…
1.300 Seiten sind eine meist sturmumtoste, sich gelegentlich aber auch
aufklärende Gebirgslandschaft mit Gipfeln und Tälern, erschütternd und
bewegend wie eben Mahlers kolossale Symphonik.
Kaum ein anderer Schriftsteller vermittelt seinen Lesern heute
eindringlicher als Péter Nádas, wie schwer das 20. Jahrhundert auf seinen
Schultern lastet. Wer sich mit seiner Biografie beschäftigt, bekommt eine
Ahnung davon, warum das so ist. Geboren wurde Nádas mitten im Zweiten
Weltkrieg, 1942 in Budapest. Als erste, prägende Erinnerung schildert er,
wie er im Treppenhaus einen Bombenangriff alliierter Flieger erlebte – mit
glimpflichem Ausgang. Da war er gerade zwei Jahre alt. In Ungarn folterten
und mordeten die faschistischen Pfeilkreuzler. Juden wurden scharenweise
deportiert, wenn sie sich nicht, wie Teile von Nádas’Familie, versteckten.
Sein erinnertes Leben beginnt zur Zeit der deutschen Besatzung, der
Kollaboration und des Verrats, der sowjetischen Belagerung und des
Einmarschs der Roten Armee. Die in Trümmern liegenden Straßen und
Häuserzüge der Donau-Metropole bilden die Kulisse seiner Kindheit. Seine
jüdischen Eltern, die er zärtlich porträtiert, auch wenn er seine
ambivalenten Gefühle ihnen gegenüber nicht verbirgt, waren als Kommunisten
im Widerstand aktiv und verloren ihren unerschütterlichen Glauben an die
Partei auch dann nicht, als sie von Intrigen der KP-Funktionäre beinahe
zerrieben wurden. Noch vor Ausbruch der blutig niedergeschlagenen
antisowjetischen Revolution von 1956 starb die Mutter an Krebs.
Den Verlauf der Erkrankung beschreibt Nádas minutiös. Sein Vater nahm sich
zwei Jahre später das Leben. Eigene Suizidgedanken manifestierten sich in
dem Heranwachsenden: „In fast jeder Stunde, jedem Augenblick meines Lebens
quälte ich mich mit der Frage, auf welche Art ich mich umbringen könnte“,
heißt es etwa. „Es war eine Heimsuchung. Eine psychische Betriebsstörung.
Gift einnehmen. Mich in die Tiefe stürzen. Mich erhängen. Irgendwo eine
Waffe finden.“
„Memoiren eines Erzählers“ hat Nádas sein Werk untertitelt, wobei schnell
klar wird, dass die Betonung auf „Erzähler“ liegen muss. Mit Goethes
„Dichtung und Wahrheit“ oder Rousseaus „Bekenntnissen“ hat das alles nur
entfernt zu tun. Begriffe wie „Memoiren“, „Erinnerungen“ oder auch
„Autobiografie“ werden dem unkonventionellen Buch nicht gerecht, das bei
aller Länge kaum Längen birgt, sondern, im Gegenteil, von Anfang an
vereinnahmt und mitreißt.
Dabei erzählt Nádas, ein Modernist durch und durch, nicht linear oder
chronologisch, sondern versucht, dem Wesen der Erinnerung gerecht zu
werden, indem er deren Struktur imitiert. Es sind die „aufleuchtenden
Details“, also fragmentarische Erinnerungsblitze, von denen ausgehend er
assoziativ Welten, wenn auch größtenteils kaputte, wieder auferstehen
lässt.
Die Perspektive wandert vom Kleinen aufs Ganze, das Ergebnis könnte
durchaus auch als Roman durchgehen. Der Detailreichtum, die
Materialkenntnis, die vor dem Leser ausbreitet wird, übersteigt bei Weitem
das, was zu erinnern einem Menschen möglich ist. Auch Geschehnisse, die
weit vor dem Geburtsjahr 1942 liegen, kommen zur Sprache. Nachträglich
Erfahrenes, Recherchiertes oder auch von Familienmitgliedern Memoriertes
vervollkommnen das eigene Gedächtnis, das hier als ein totales erscheint –
und den Leser förmlich in sich aufnimmt.
„Und jedes Jetzt birgt ein Damals“, heißt es an einer Stelle in „Das End…
dem neuen, wunderbaren Roman von Nádas’Landsmann Attila Bartis. Darum geht
es auch in „Aufleuchtende Details“: Um die freudianische oder auch
nietzscheanische Frage, wie sich das eigene Ich historisch-psychologisch
zusammensetzt – möglicherweise zusammensetzt, bleibt es doch immer eine
Sache der Deutung und viel weniger des eigenen Erinnerns.
Nádas’Schreiben trägt im Innern auch Züge der archäologischen und
genealogischen Verfahrensweise Michel Foucaults, die nicht zufällig eine
große Nähe zur Literatur aufweist. Wie in den „Parallelgeschichten“ rückt
auch in den „Memoiren“ wieder das Körperliche in den Fokus, angefangen mit
dem respekteinflößenden Großvater, „knochendürr, an seinem Brustkasten
drückten sich die Rippen durch die Haut … noch heute spüre ich in den
Gliedern seine Armknochen, seine Schlüsselbeine, seine scharfen Rippen.“
Nádas zeigt plastisch, wie sich Geschichte in die Körper ihrer Subjekte
einschreibt.
Die Grundstimmung ist düster, voller Moll-Töne, das lässt sich nicht anders
sagen. Es gibt Seiten des Zorns, nicht zuletzt ist das Buch eine Abrechnung
mit dem kommunistischen Regime in Ungarn, das in so vielen Nádas-Werken
Eingang gefunden hat. Erinnerungen an Verluste, an Hänseleien in der
Schule, an eine den kleinen Péter ewig begleitende Angst stecken darin,
aber auch solche an frühes Verliebtsein oder den schönen Traum, ein Tänzer
zu werden.
Lichtblicke wie diese, ironisch-heitere, humoristisch aufleuchtende Details
sind es, die diesen filigran gewobenen, vielfarbigen Großtext
vervollkommnen und zu einem einzigartigen Kunstwerk machen, in dem sich
vielleicht nicht die ganze Welt wie bei Gustav Mahler, aber doch das ganze
20. Jahrhundert in seiner Weite, Tiefe und Gewichtigkeit spiegelt.
Péter Nádas: „Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers“. Aus dem
Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017, 1.280
Seiten, 39,95 Euro
15 Nov 2017
## AUTOREN
Tobias Schwartz
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