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# taz.de -- Elise GratonGlobetrotter: Den Blick weiten, wenn alle in eine Richt…
Damals, als es noch existierte, bin ich gern ins Pirate Cinema in Berlin
gegangen. Es kostete keinen Eintritt und zeigte jeden Sonntagabend
handverlesene Filmjuwelen oder derbes Zeug. Die Auswahl nahm dabei immer
Bezug auf das aktuelle Weltgeschehen, zumindest im Kopf des Gastgebers, der
die drei- bis vierstündigen Vorführungen stets mit einer mittellangen Rede
eröffnete.
Das letzte Mal war ich 2007 da, gerade, als sich der G8-Gipfel in
Heiligendamm anbahnte. Der Saal war wie verwaist. Alle waren gen Nordosten
aufgebrochen, um zu demonstrieren. Der Gastgeber sinnierte über den
kurzlebigen Effekt solcher En-bloc-Bewegungen und meinte, der Moment biete
sich an, um konsequent in die genau entgegengesetzte Richtung zu blicken.
Der Film des Abends – eine Dokumentation über Selbstmörder, die sich von
der Golden Gate Bridge im kalifornischen San Francisco in den Tod stürzen –
entpuppte sich im Sinne der Kuratorenlaudatio als nicht sonderlich
aufschlussreich. Aber die Idee, ab und zu dorthin zu schauen, wo nicht alle
sind, bleibt für mich weiterhin einleuchtend.
Dazu spornte kürzlich auch die kamerunische, seit 1991 in Frankreich
lebende Schriftstellerin Léonora Miano in ihrem neuen Buch „Marianne et le
garçon noir“ (Marianne – als Nationalfigur der französischen Republik –…
der schwarze Junge) an, in dessen Einführung sie schreibt: „Der systemische
Rassismus sollte vor allem diejenigen beschäftigen, deren Existenz er nicht
bedroht.“
Anlass für den Sammelband, an dem TheoretikerInnen und von Rassismus
Betroffene beteiligt waren, sind polizeiliche Gewalttaten gegen junge
schwarze Franzosen, die in den letzten zwei Jahren durch alle Medien
gingen: Vorläufige Festnahmen oder Identitätskontrollen, die wie im Falle
von Adama Traoré zum Tod durch Ersticken oder bei Théodore Luhaka zu einer
Vergewaltigung durch die anale Einführung eines Knüppels führten.
Mit „Marianne et le garçon noir“ lädt nun Miano dazu ein, in eine andere
Richtung zu blicken und über das Stadium der medialen Empörung
hinauszugehen, „die immer gerecht ist, aber schnell verlöscht und nicht
fruchtbar ist“, wie die 44-Jährige im Interview mit dem Magazin Nouvel Obs
erläuterte. Die jeweiligen Texte sollen dazu dienen, die Fragen zu
polizeilicher Gewalt hinter sich zu lassen, um generelle Fragen nach der
Beziehung zur eigenen Männlichkeit von schwarzen Männern zuzulassen, die in
einer weiß-männlich dominierten Welt entmachtet scheinen.
Von dem Buch hatte ich zunächst durch Radio France Culture erfahren, als es
an einem Septemberabend von zwei JournalistInnen hitzig debattiert wurde.
Die eine war höchst positiv beeindruckt – der andere lobte zwar die
Initiative, sah dennoch im Ergebnis eine Gefahr für den Zusammenhalt der
derzeit ohnehin fragilen Republik.
Jetzt, wo ich das Buch gelesen habe, kann ich seinem Einspruch nicht ganz
folgen. Klar ist der Ton generell scharf. Die Berichtenden, etwa die
afrokaribische Trans-Aktivistin Michaëla Danjé, der Autor senegalesischer
Herkunft Insa Sané oder der selbsternannte „Arctivist“ Elom 20ce aus Togo,
erzählen aus ihrer jeweiligen Perspektive auf eindrückliche Weise von fest
verankerten Vorurteilen, von Demütigungen und Entmutigungen und suchen nach
Erklärungen, die nicht unbedingt immer für alle Beteiligten angenehm sind.
Wer sich aber an der These stört, die frühe Kolonialherrschaft bestimme
immer noch die gesellschaftliche Ordnung des heutigen Frankreichs; wer sich
das nicht zumindest anhören will oder kann, der verweigert sich im Grunde
einer vor dem Hintergrund wachsenden Unmuts und identitärer Auswüchse
längst fälligen Debatte.
Dabei kann man aus den Beiträgen fast durchgängig den Wunsch der
Berichtenden herauslesen, Teil der Republik sein zu wollen – wenn diese es
nur mit ihren proklamierten Werten der Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit ernst nehmen würde.
Elise Graton ist freie Autorin und Übersetzerin in Berlin
21 Nov 2017
## AUTOREN
Elise Graton
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