# taz.de -- Gäääääääääääähn | |
> Seit ihrer Jugend, sagt Susanne Kahrs, hat sie die Müdigkeit. Auf die | |
> Arbeit kann sie sich nicht konzentrieren, im Alltag vergisst sie ständig, | |
> was sie zuletzt gemacht hat. Über das Leben mit Narkolepsie | |
Bild: Krankhafte Müdigkeit kann die Hölle sein | |
Von Thomas Feix | |
Wie ein Vorwurf kommt es Susanne Kahrs* stets vor. Ständig, sagt sie, muss | |
sie sich sagen lassen, dass sie apathisch wirke, gefühlskalt, gleichgültig. | |
Ausgelaugt und abwesend. Dass sie immer so traurig in die Gegend gucke. Und | |
daran anschließend die Frage, was mit ihr sei. Nichts, sagt sie dann. | |
Nichts, außer dass ich den ganzen Tag über damit zu tun habe, nicht gleich | |
auf der Stelle einzuschlafen. | |
Vielleicht aber ist es kein Vorwurf. Vielleicht ist es einzig Ausdruck der | |
Sorge um sie. Da doch selbst die Verwandten, die den Grund dafür kennen, | |
bei Familienfeiern von ihr wissen wollen, wieso sie inmitten des | |
Beisammenseins wie eine Fremde dasitzt und mit tonlosem Klang in der Stimme | |
zu ihnen spreche. Wo ist deine Anteilnahme, fragen sie sie. Wo sind deine | |
Reaktionen. | |
Aber das kann ich nicht, sagt Kahrs. Mimik und Gestik darzubieten, nur | |
damit die anderen mich für lebendig halten. Ich nehme alle Ereignisse in | |
meiner Umgebung in mir auf. Wie ein Seismograf. Einige der Schwingungen | |
wandle ich in Kreativität um. | |
Dass sie am Hörer immer so depressiv rüberkomme, monoton, hat man ihr bei | |
der Telefongesellschaft gesagt, in deren Callcenter sie 2012 gearbeitet | |
hat. Sie solle doch endlich Emotionen zeigen, Eifer, Empathie. | |
Eigenschaften, die sie für die Art von Arbeit unbedingt brauche, haben sie | |
ihr gesagt. | |
Keine Depression und keine Apathie. Die Ärzte haben ihr das bescheinigt. | |
Keine Anzeichen dafür bei ihr da. Für Abwesenheit oder Gefühlskälte ebenso | |
wenig. Das allerdings weiß sie auch ohne ärztliches Attest. | |
## In die Reha | |
Nichts von alldem. Nur immer dieser Dämmerzustand, der ihr Leben umklammert | |
hält. Es passiert ihr, dass sie sich wegen Schläfrigkeit mit der S-Bahn | |
verfährt oder mit dem Bus, dass sie die falsche Richtung nimmt oder an der | |
falschen Station aussteigt. | |
Vor vier Jahren war Kahrs für arbeitsunfähig befunden worden, nachdem sie | |
bei einem Termin im Arbeitsamt eingeschlafen und in sich zusammengesunken | |
war. Der Aufenthalt in einer Arbeitsrehabilitationsklinik folgte. Nach | |
Ablauf der fünf Wochen ist ihr Narkolepsie als Diagnose mitgeteilt worden, | |
auch als Schlummersucht bezeichnet. | |
Jetzt, beim Interview, wie auch beim vorangegangenen, schafft sie es nicht | |
lange, sich zu konzentrieren. Eine Stunde Gespräch, dann ist Schluss. Vor | |
Gähnen kann sie kaum weitersprechen. Bis zum nächsten Mal, sagt sie. Aber | |
auch dann höchstens eine Stunde lang. Wieder bei ihr zu Hause, wieder in | |
ihrer Wohnung in Berlin-Schöneberg. | |
Beim ersten Treffen, das in einem Café war, hatte sie einen Rollstuhl mit | |
dabei. In den hinein versuche ich mich zu retten, sobald ich unterwegs | |
spüre, dass ein Anfall kommt, hatte sie gesagt. Jederzeit könnte sie | |
plötzlich irgendwo mitten auf der Straße niederstürzen. | |
Liege ich dann für Augenblicke bewegungsunfähig da, sagt sie, kriege ich | |
alles um mich herum ganz genau mit. Die Skelettmuskulatur versagt, nicht | |
das Bewusstsein. Eine sogenannte Kataplexie. Jähes, unkontrollierbares | |
Umfallen, durch Gefühlsaufwallung hervorgerufen. Es ist ein häufig | |
auftretendes Nebensymptom der Narkoplepsie, ein plötzlicher Verlust des | |
Muskeltonus. Ausgelöst durch verschiedene Sinnesreize. Lachen, | |
gegenseitiges Umarmen oder auch nur Händeschütteln können sie zu Boden | |
bringen. Alle Empfindungen der Freude oder Erregung generell. Flackerndes | |
Licht. Laute, scharfe Geräusche. | |
Oder das Geräusch, das die Räder eines anhaltenden Zuges zusammen mit den | |
Schienen machen. Einmal hat sie ein solches Geräusch niedergeworfen: Da war | |
eine U-Bahn in den Bahnhof eingefahren und sie war zusammengesackt. | |
Martinshorn und Blaulicht von Feuerwehr und Krankenwagen haben die gleiche | |
Wirkung auf Kahrs. Nicht aber Signale von Polizeiautos. Da ist ein | |
Unterschied, sagt sie. | |
Die Kataplexien bei Kahrs kamen vor vier Jahren. Seither kommen sie | |
täglich, bis zu 30 Mal am Tag. Auslöser war damals der Unfall eines Kindes. | |
Beim Überqueren der Straße war das Mädchen in ein Auto hineingelaufen. Der | |
Anblick ließ Kahrs zusammenklappen.Unvermutet verstummt sie und sinkt auf | |
dem Stuhl in sich zusammen, auf dem sie sitzt; als wäre ihr der Kopf zu | |
schwer geworden, kippt er ihr langsam vornüber. Fast berührt ihre Stirn die | |
Tischplatte. Sekunden nur, und Kahrs ist wieder da. Das jetzt gerade war | |
eine Kataplexie, sagt sie. | |
Beim ersten Treffen im Café knickten ihr beim Abschiedsgruß auf einmal die | |
Knie weg, und das Kinn sackte ihr bis zur Brust hinab. Der Kellner, der in | |
ihrer Nähe stand, fing sie auf und stützte sie so lange, bis der Anfall | |
vorüber war. Ihre mentale Anspannung war Schuld damals. | |
Womöglich werde sie die nächste Verabredung in einer Woche kurz vor der | |
miteinander vereinbarten Stunde absagen, sagt sie. Weil der Tag, wie schon | |
so manch anderer zuvor, ohne Energie für sie begonnen haben werde, sie | |
deshalb am Morgen nicht aufgestanden sein werde, nicht aufstehen werde | |
können. Weil sie den ganzen Tag hindurch im Bett bleiben und vor sich hin | |
blicken werde, ein einziges Starren. | |
Das Mietshaus, in dem sie wohnt, ist ein Altbau ohne Lift. Die zwei Treppen | |
hinauf bis zu ihrer Wohnung sind manchmal nicht leicht für sie zu | |
bewältigen. Vor allem dann, wenn sie das Kniezittern hat, die Schwere in | |
den Beinen und so mehr torkelt und trippelt, als dass sie geht. Mit den | |
Händen wuchtet sie dann Schritt um Schritt jedes Knie einzeln die | |
Treppenstufen hoch. | |
Eine Dreiraumwohnung mit hohen Fenstern, in der sie zusammen mit ihrer | |
13-jährigen Tochter, Wellensittichen, einer Katze, Schildkröten und | |
Aquariumfischen lebt. Den Haushalt macht sie ganz allein, auch wenn es | |
dauert und nie ganz perfekt wird. | |
Kahrs ist Jahrgang 1966, zierlich, hellbrünett, in Berlin geboren und | |
aufgewachsen. Von 2006 bis 2009 hatte sie die Ausbildung zur | |
Diplomdolmetscherin für Wirtschaftsenglisch absolviert. Davor ist sie über | |
zehn Jahre lang als Fremdsprachensekretärin tätig gewesen. | |
Damals war es so, dass sie an ihrem Arbeitsplatz im Büro mehrmals am Tag am | |
Schreibtisch eingenickt ist. Irgendwie musste ich zu Schlaf kommen, sagt | |
sie. Der Zwang dazu war einfach da. Es war nicht anders denkbar. Das war | |
keine Frage der Wahl. | |
Kahrs ging dann auf die Toilette, setzte sich auf die Schüssel, legte den | |
Kopf auf die Knie, schlang die Arme darum und schlief zehn Minuten lang. | |
Dem Chef blieb das nicht verborgen. Bei der Neustrukturierung der Firma sei | |
sie dann als Einzige von allen Kollegen nicht mit übernommen worden, sagt | |
sie. | |
Danach war sie bei verschiedenen Zeitarbeitsfirmen beschäftigt. Als | |
Rechtsanwaltsgehilfin und in der Buchhaltung unter anderem, und der Drang | |
nach Schlaf immer mit dabei. Nach dem Callcenter als allerletzter ihrer | |
Arbeitsstellen war sie mit dem Befund Erschöpfung für anderthalb Jahre | |
krankgeschrieben worden. | |
Den Anforderungen im Callcenter war sie von Anfang an nicht gewachsen. | |
Obwohl sie großes Interesse an der Arbeit hatte und gern im Unternehmen | |
geblieben und aufgestiegen wäre. Doch beim Telefonieren bekam sie die | |
Kundenfragen und -wünsche nur sehr beiläufig mit. Ihr war das alles ein und | |
dasselbe schläfrige Rauschen, das in der Ferne an ihr vorüberzog. | |
Die Computerprogramme verwirrten sie, die sie während eines Telefonats | |
aufzurufen hatte. Nicht intellektuell, sondern weil sie müde war. Sofort | |
vergaß sie zudem all das wieder, was sie eben gerade noch bearbeitet hatte. | |
Welche Tarife für einen Kunden sie wo, warum und wie eingegeben hatte. Wer | |
der Kunde überhaupt war. | |
Dass sie sich nichts merkt, ist im Alltag ebenso sehr ein Problem. Wasser, | |
das sie sich zum Kochen aufgesetzt hat, darf sie nicht aus den Augen | |
lassen. Sie muss in der Küche dabeibleiben und es beobachten, weil sie es | |
andernfalls vergisst. Aus den Augen, aus dem Sinn, sagt sie. Alles muss sie | |
sich Tag für Tag, Punkt für Punkt in ihr Tagebuch eintragen. Wann sie die | |
Blumen gegossen hat, wer wann und weshalb bei ihr angerufen hat und ob die | |
Tiere alle versorgt sind. Sonst sei es für sie im nächsten Moment für immer | |
und ewig weg. Dass sie sich das alles und noch vieles andere mehr wunderbar | |
geordnet und nummeriert täglich in ihr Tagebuch schreibe, nennt sie ihre | |
Überlebensstrategie. | |
Um zehn Uhr abends geht sie in der Regel ins Bett. Nach zwei Stunden Schlaf | |
ist sie zwar wieder wach. Dafür bleiben die Kataplexien aus. Nachts, wenn | |
sie sich als viel wacher wahrnimmt als tagsüber, Yoga macht und viel liest. | |
Am Tag wiederum, sagt sie, träume sie häufiger und intensiver als in der | |
Nacht. Anders als gewöhnlich fällt der traumlose Non-REM-Tiefschlaf bei | |
Narkolepsie so gut wie weg und damit die Regeneration des Patienten. Nie | |
ist der Patient ausgeruht, nie ausgeglichen. Den verloren gegangenen | |
nächtlichen Erholungsschlaf ist er bestrebt, tagsüber wiederzugewinnen. | |
Eine Krankheit, die derzeit nicht zu heilen ist und in Deutschland in etwa | |
50.000 Menschen betrifft. | |
Neben Kataplexien und Tagesmüdigkeit sind Einschlafattacken und | |
Halluzinationen wesentliche Merkmale. Aktuell gilt das Hormon Orexin für | |
den geregelten Schlaf-wach-Rhythmus als verantwortlich, Mutationen im Gen | |
des Rezeptors für das Krankheitsbild der Narkolepsie. | |
## Schreiben, um zu überleben | |
Seit meiner Jugend, sagt Kahrs, habe ich die Müdigkeit. Vielleicht ist die | |
Krankheit der Preis, den ich für meine Kreativität zu zahlen habe. | |
Mit acht hatte sie damit angefangen, Kurzgeschichten zu schreiben. Jetzt | |
sind es Kinderbücher, die sie verfasst. Heute, da sie seit drei Jahren | |
Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht, hat sie die Zeit und die Freiheit dazu. | |
Mit Buntstiftzeichnungen illustriert sie jedes einzelne Kapitel. | |
Acht schmale Bände hat sie bislang fertig geschrieben, die alle noch nicht | |
erschienen sind. Seit 14 Jahren schreibt sie an einem Fantasy-Roman. Für | |
190 Seiten des Romans bis jetzt eine sehr lange Spanne vielleicht. Aber sie | |
schafft es immer nur eine halbe Stunde lang durchzuarbeiten. Dann wird sie | |
müde, schläft ein, schläft 20 Minuten lang. Erst danach kann sie | |
weitermachen. | |
Narkoleptiker, sagt Kahrs, werden meist missverstanden. Weil sie viel zu | |
oft als gleichgültig, apathisch und depressiv angesehen werden, | |
gelegentlich auch als faul und unvermögend. | |
Die Medikamente hat sie längst als für sich unverträglich abgesetzt. Zu | |
schreiben bedeutet ihr das Bemühen darum, ihrem Leiden auf Dauer zu | |
trotzen. Hätte ich das Schreiben nicht, sagt sie, wäre jeder Tag schwierig | |
für mich. | |
*Nachname von der Red. geändert | |
18 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Thomas Feix | |
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