# taz.de -- Männer mit schlechtem Ruf | |
> Er gründete eine Selbsthilfegruppe für türkische Männer, ist großer | |
> Bruder und inoffizieller Bürgermeister von Neukölln. Sonja Hartwig hat | |
> Kazım Erdoğan fünf Jahre begleitet | |
Bild: Sonja Hartwig: „Kazım, wie schaffen wir das? Kazım Erdoğan und seine… | |
Von Philipp Daum | |
Sonja Hartwig hat ein Buch über ein unspektakuläres Thema geschrieben. Sagt | |
sie selbst: Es geht hier um Männer, die in einem Raum sitzen. Sie sitzen | |
da, jeden Montag, trinken Tee und reden. Sonst passiert nichts. | |
Die Männer reden über Heimat, zu Hause, lächelnde türkische Zollbeamte, | |
schlecht gelaunte deutsche Zollbeamte, Wunden, vom Fremdgehen, von den | |
Schlägen ihrer Eltern, vom Zuschlagen. | |
In ihrer Mitte redet Kazım Erdoğan. Erdoğan, der 1974 am Bahnhof in München | |
ankam und so lange suchte, bis er einen Schnauzbärtigen gefunden hatte, der | |
Türkisch konnte und ihm den Zug nach Westberlin zeigte. Erdoğan, der | |
beinahe abgeschoben wurde, Psychologie studierte, als Lehrer arbeitete, als | |
Psychologe für den Bezirk Neukölln, und später ein Bundesverdienstkreuz | |
bekam. | |
Eines Tages begann er sich zu fragen, warum zur Familienberatung immer nur | |
türkische Frauen kamen, aber keine Männer. Wo waren diese Männer? Auf | |
Schicht, in Cafés, beim Kartenspielen, in Spielhallen. Also gründete | |
Erdoğan eine Selbsthilfegruppe für türkische Männer in Berlin: „Männer, … | |
ein Pauschalabo als Proleten hatten: Produzenten häuslicher Gewalt, | |
Holzklötze Anatoliens am Fließband übler Taten. Kazım hatte sie eingeladen, | |
damit sie daran arbeiten, den schlechtesten Ruf aller Zeiten zu verlieren.“ | |
Es gibt fantastische Geschichten in diesem Buch. Etwa die von Tarkan, Ende | |
zwanzig, der mit vollem Namen Tarkan Bruce Lohde heißt, Tarkan wegen seines | |
Vaters, Bruce wegen Bruce Lee und Lohde wegen seiner Mutter, und von dem | |
wir erfahren, wie Tarkans deutscher Onkel Thomas, der mit ihm die Liebe zu | |
chinesischer Kampfkunst teilt, ihn einmal aus pädagogischen Gründen in die | |
Spree warf. | |
Hartwig hat den Gesprächen der Männergruppe viel Raum in ihrem Buch | |
gegeben. Dazu kommen Episoden aus dem Leben der Protagonisten und immer | |
wieder Abschnitte über Kazım Erdoğan, den Hartwig über die Strecke des | |
Buches erfolgreich entschlüsselt. Ein typischer Kazım-Satz, gesprochen bei | |
einer Festrede zu einer Einbürgerungsfeier, geht so: „Meine Bitte ist, dass | |
Sie sich einmischen. Jeder von uns kann ein Minibrötchen backen.“ | |
Manchmal denkt man beim Lesen: Das sind alles super selbstverständliche | |
Dinge. Sich einmischen. Miteinander reden, einander zuhören. Völlig | |
selbstverständlich. Aber Anfang der nuller Jahre gab es in der gesamten | |
Neuköllner Verwaltung nur zwei Mitarbeiter mit Migrationshintergrund. In | |
der Familienberatungsstelle gab es einen, den alle für einen Türken | |
hielten, dabei war er kein Türke, sondern Iraner. Er habe sich zwar nie als | |
Türke vorgestellt, lässt sich Hartwig vom damaligen Leiter erzählen, aber | |
auch nie widersprochen, als man ihn als Türke bezeichnete. Die Moral dieser | |
etwas umständlichen Geschichte: „Die Verantwortlichen stellten jemanden | |
ein, der nicht in Deutschland aufgewachsen war, damit er sich um alle | |
kümmere, die auch nicht in Deutschland aufgewachsen waren. Der Türke war | |
somit ein Mitarbeiter für das gute Gewissen, eine Ausrede, | |
Wir-müssen-uns-nicht-mehr-kümmern.“ | |
Es ist jetzt nicht so, dass es in diesem Buch definitive Antworten gibt: | |
Wie gelingt Ankommen? Was muss man tun, damit Geflüchtete und | |
Daheimgebliebene zueinander finden? Nur eines ist wirklich eindeutig: Es | |
wurde viel zu viel übereinander und, ganz eindeutig, viel zu wenig | |
miteinander geredet. | |
Jeder, der sich fragt, ob man mit besorgten Bürgern, der AfD, der AKP oder | |
sonst wem reden dürfe, oder ob man dadurch etwas aufwerte oder irgendetwas | |
Unwünschenswertem zu viel Raum gebe, jeder Apologet des Gesprächsabbruchs | |
also, sollte dieses Buch lesen: Hier sprechen Atheisten mit Gläubigen, | |
Kurden mit Türken, Nationalisten mit Linken, Schläger mit Friedfertigen, | |
die ganze türkische Männergruppe mit Thilo Sarrazin. | |
Miteinander reden. Das mag eine simple Lektion sein, aber man hat sie | |
selten so schön vorgeführt bekommen wie in diesem Buch. Kazım Erdoğan sagt | |
zu seiner Gruppe, ganz zu Beginn des Buches: Sprecht frei, sprecht ohne | |
Angst. Es ist nicht so, dass nur Neukölln darin Nachhilfe bräuchte. | |
4 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Philipp Daum | |
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