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# taz.de -- Der Kampf um Deutungs-hoheiten
> Ethnologische Perspektiven werden am Humboldt Forum eine wichtige Rolle
> spielen. Mit diesen und mit den veränderten Fragestellungen der Disziplin
> in einer Welt der Migration beschäftigte sich eine Tagung in Berlin. An
> deren Ende standen eine Umbenennung und noch mehr Fragen
Bild: Die Figur des Antinous vor Regenpfützen im Hof des Humboldt Forums Foto:…
Von Ulrike Prinz
„Zugehörigkeiten. Affektive, moralische und politische Praxen in einer
vernetzten Welt“ – so lautete der ambitionierte Titel eines viertägigen
Treffens der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (DGV), der an der FU in
Berlin stattfand. Ein Titel, der die Untersuchung der sogenannten
Flüchtlingskrise abdeckt bis hin zu Detailstudien darüber, wie diese
vielfältigen affektiven, moralischen und politischen Resonanzen Menschen
zueinander in Beziehung setzen. Und ein Titel, der die Aktualität des
Themas geschickt zu verbinden wusste mit dem, was Ethnologen an sich
ohnehin schon immer tun: Prozesse in einer globalisierten vernetzten Welt
zu erforschen.
Heute sind ihre Analysen mehr gefragt denn je. Diversitäten stellen ja
nicht nur eine Attraktivität für Berlin dar, wie der Beauftragte des
Berliner Senats für Integration und Migration, Andreas Germershausen, zur
Eröffnung der Tagung bemerkte, sondern auch eine große Herausforderung. Er
wünschte sich von den Ethnologen viel Forschungsarbeit auf diesem Gebiet
„in einer Form, die wir auch verstehen“.
Die Brisanz des Tagungsthemas hob der Vorsitzende der Deutschen
Gesellschaft für Völkerkunde (DGV), Hansjörg Dilger, hervor. Berlin ist
eine Stadt, in der man Zugehörigkeiten im Kontext transnationaler
Verflechtungen täglich erfahren kann. Die Erforschung von Identitäten im
Kontext der Globalisierung sei angesichts des aktuellen Erstarkens
nationalistischer, separatistischer und rassistischer Diskurse in
Deutschland, Europa und weltweit wichtiger denn je. Und damit auch die
Bedeutung der Wissenschaft „mit den vielen Namen“. Am Ende der Tagung wurde
der bei vielen ungeliebte Name „Völkerkunde“ hinter „Deutsche Gesellscha…
für“ durch „Sozial- und Kulturanthropologie“ ersetzt.
Ethnologen wollen gehört werden. Dabei untersuchen sie immer weniger die
„Völker“, sondern zunehmend internationale Verflechtungen und Prozesse.
Die Eröffnungsveranstaltung „Refuge Europe at Its Limits?“ (Zufluchtsort
Europa an seinen Grenzen?) beflügelte erwartungsgemäß nicht den Diskurs des
„vollen Bootes“, sondern widmete sich vor allem den Widersprüchen eines
Europas, das einerseits Menschenrechte, liberale Demokratie und
Gleichheitsgrundsätze auf seine Fahnen schreibt und das auf der anderen
Seite durch restriktive Grenzregime den Ausschluss und Diskriminierung von
Menschen in Kauf nimmt.
Die sogenannte Flüchtlingskrise sei vielmehr als eine Krise Europas als
politisches Projekt zu verstehen, stellte Olaf Zenker (Universität
Freiburg/Schweiz) heraus. Sie führte zu einem Zusammenprall zwischen
„Willkommenskultur“ und dem Erstarken eines rechtsgerichteten Populismus.
Laut Zenker trägt die aus der Folge der europäischen Finanzkrise auferlegte
Sparpolitik dazu bei, die sozialen Ungerechtigkeiten zu verschärfen. Dies
befördere jenen Populismus.
Durch ihre teilnehmende Praxis sind Ethnolog*innen nah an ihrem
„Forschungsobjekt“ und zeigen, wie man die sogenannte „Flüchtlingskrise�…
aus anderen Perspektiven betrachten kann und sollte. So Alessandro Monsutti
(Graduate Institute of International and Development Studies, Genf,
Schweiz), den seine Feldforschung in Afghanistan dazu brachte, anders über
die „Flüchtlingskrise“ zu denken. Die freiwillige und durch Konflikte
erzwungene Migration liest er als einen politischen Akt des Protestes gegen
die Ungleichheit. Denn wir lebten in einer Welt, die so ungleich ist wie
nie zuvor und in der 1 Prozent der Menschheit insgesamt mehr besitzt als
die 99 verbleibenden Prozent. Diese Ungerechtigkeit sei auch den Fliehenden
bewusst.
Heath Cabot (University of Pittsburgh, USA) untersuchte, wie in
Griechenland zwei humanitär geprägte „Krisen“ – die Wirtschafts- und die
Flüchtlingskrise – in ihrer ganzen Gewalt aufeinandertreffen. Griechische
Bürger*innen, die durch die Eurokrise und die drastische Sparpolitik ihre
sozialen Rechte verloren, fänden sich gemeinsam mit den Fliehenden in einem
geteilten prekären Kontinuum wieder. Hier lasse die „Flüchtlingskrise“
Solidarität entstehen.
Die Tagung brachte jede Menge detailliertes Wissen. Städtische Räume sind
ein gutes Untersuchungsfeld für multiple Perspektiven. So wurde am Beispiel
einer Sufi-Gemeinde in Neukölln deutlich, wie wichtig es ist, sich in
Zeiten von „Ortslosigkeit“ moralisch in der Stadt zu verankern. Die
ethnologische Expertise, das machte die Tagung deutlich, ist erhellend und
notwendig. Allerdings wurde auch klar, dass Ethnologen, wenn sie gehört
werden wollen, am Verstanden-Werden noch etwas arbeiten müssen.
Bei einem weiteren Thema steht die Wissenschaft plötzlich im Rampenlicht
der medialen Aufmerksamkeit: bei der aktuell hoch umstrittenen Zukunft des
Humboldt Forums. Vor der Diskussion forderte der Leiter der Abteilung
Musikethnologie am Ethnologischen Museum Berlin, Lars Christian Koch, eine
stärkere Zusammenarbeit zwischen den Museen einerseits und den
universitären Einrichtungen andererseits. Er kündigte ein Treffen der
frisch umbenannten Deutschen Gesellschaft für Sozial- und
Kulturanthropologie und der Gründungsintendanz an, von dem man sich einen
Austausch von Ideen und Expertisen erhoffte und eine Verstetigung eines
Dialogs. Erstaunlich war dieser Appells wegen seines Zeitpunktes: knapp
zwei Jahre vor der Eröffnung des Humboldt Forums. Hatte es etwa bislang
keinen regelmäßigen Austausch gegeben?
Viola König, Direktorin des Ethnologischen Museums Berlin, beklagte das
Umwerfen von „Konzepten, die es eigentlich gegeben hat“, die aber
kritisiert wurden, noch bevor sie „nach oben“ gereicht worden waren. Den
beiden externen Beratern Martin Heller und Neil McGregor warf sie vor, sich
auf die Ausstellungsplanung geworfen zu haben, anstatt das gesamte Forum
sinnvoll zu vernetzen. So wurden gerade wieder Dauerausstellungen
eingeplant, von denen man sich in Dahlem aus leidvoller Erfahrung bewusst
getrennt hatte.
Immer wieder kam die Diskussion auf die Sprechfähigkeit der Disziplin
zurück, der vorgeworfen wurde, sich in ihrer Dezentralisierung
selbstzufrieden eingerichtet zu haben. Auf der anderen Seite stellte
Wolfgang Schäffner (Humboldt-Universität zu Berlin, Wissens- und
Kulturgeschichte) eine regelrechte Ethnologisierung der
Kulturwissenschaften fest. Diese schreiben nicht mehr Ideengeschichte,
sondern die Geschichte von Praktiken und Objekten. Laut Schäffner ist es
die Aufgabe des Forums, die Vielfalt der Wissenschaftsformen
zusammenzubringen und Vielfältigkeiten denkbar zu machen.
## Die Schattendiskussion
Laut Carola Lenz (Johannes Gutenberg-Universität, Mainz) wurden die
Diskussionen um das Forum bisher hauptsächlich von den
NO-Humboldt-Aktivisten gesteuert. Der Rücktritt der Kunsthistorikerin
Bénédict Savoy und ihre Rede über „bluttropfende Objekte“ hätten überd…
eine starke Debatte ausgelöst. Launig schlug sie vor, das Humboldt Forum
und die dazugehörigen Skandalisierungen als eine Gesamtaufführung zu sehen.
Lenz prangerte aber auch den protestantischen „Sündenstolz“ an. Es sei
unmöglich, die gesamte Kolonialschuld im Humboldt Forum abzutragen; das sei
eine vermessene und arrogante, eurozentrische Auffassung. Abenteuerlich
nannte sie auch die Vorstellung, das Humboldt Forum müsse „aus einem Guss
sein“. Albert Guaffo, Germanist der Université de Dschang aus Westkamerun,
mahnte die „geteilte Geschichte“ an. Die Provenienzforschung bilde das
Fundament, meinte er.
Schien die Rolle der ethnologischen Perspektiven für die Institution des
Humboldt Forums zunächst zentral, so wirkt sie heute in den Hintergrund
gedrängt, während sich die Debatten um Provenienzforschung und koloniale
Schuld drehen. Thomas Schmid, Moderator der Runde, stellte verwundert fest,
dass es eine Art Schattendiskussion gäbe, die kaum an die Oberfläche komme
und die offenbar von den politisch steuernden Instanzen des Humboldt Forums
nicht gewollt ist. Zwei Jahre vor der Eröffnung des Humboldt Forums scheint
es, als wolle sich die Ethnologie noch einmal gegen den Verlust ihrer
Deutungshoheit aufbäumen.
13 Oct 2017
## AUTOREN
Ulrike Prinz
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