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# taz.de -- randale beim g20-gipfel: Gewaltfrei ist stärker
> Im Rechtsstaat darf nur die Polizei unmittelbaren Zwang anwenden. Was
> aber ist, wenn Ungerechtigkeit und Brutalität ganz legal sind?
Die Debatte über die Krawalle in Hamburg war heftig, aber kurz. Dabei ist
die wohl wichtigste Frage noch nicht ausreichend diskutiert worden: Waren
die Krawalle wirklich falsch? Den Reaktionen nach könnte man meinen, die
Deutschen seien allesamt radikale Pazifisten geworden. Es ist es aber
einfach, gegen Gewalt zu sein, wenn man keine Notwendigkeit dafür spürt.
Sobald wir direkt von großer Ungerechtigkeit betroffen sind, ändert sich
die vormals pazifistische Haltung schnell.
Vergangene Woche klopfte beispielsweise ein freundlich lächelnder Herr an
unserem Berliner Mietshaus an und erklärte, dass unsere Wohnungen verkauft
würden. Da diese schon lange in Eigentumswohnungen umgewandelt worden sind,
scheint das für mich zu heißen, dass ich innerhalb eines halben Jahres ganz
legal gekündigt werden kann. Nach 15 Jahren, in denen diese Bleibe ein Hort
der Sicherheit für mich war, könnte ich auf den ätzenden Berliner
Wohnungsmarkt gezwungen werden. Besonders wütend macht mich dabei meine
Ohnmacht.
In den letzten, unruhigen Nächten habe ich davon fantasiert, dem
Immobilienhai zu drohen, sein Auto anzuzünden, seine (völlig unschuldige)
Katze an dessen Haustür zu nageln. Schon klar, dass das völlig überzogen
wäre, aber konfrontiert mit großer Ungerechtigkeit taucht bei vielen von
uns der Wunsch auf, die Dinge in die eigenen Fäuste zu nehmen. Es würde
bestimmt funktionieren: Die meisten geben nach, wenn ihnen ernsthaft
gedroht wird.
Vielleicht heuert mein Immobilienhai aber auch einen Schlägertrupp an,
professionelle Gewalttäter. Nach der von mir geführten Logik wäre diese
Gewalt ja genauso gerechtfertigt. Gewalt ist ansteckend und kann sich
schnell vom Steinwurf zu einem tosenden Feuer entwickeln, wie wir gerade in
Syrien sehen können. Gewalt überzeugt nicht, sondern schüchtert ein oder
überwältigt.
Das ist das Schlaue am rechtsstaatlichen Prinzip: Nur die Polizei darf
Gewalt anwenden, und diese Gewalt wird (in der Theorie) streng überwacht
und muss sich an die eigenen Regeln halten. Die Polizei darf Gewalt
anwenden, damit wir es nicht müssen.
Die Steinewerfer von Hamburg mussten allerdings selbst erleben, wie die
Polizei massenhaft diese Regeln gebrochen hat. Und wichtiger: Was ist, wenn
Ungerechtigkeit und Brutalität ganz legal sind? Wenn beispielsweise
Menschen sich ihr Leben lang krank gearbeitet haben und sich doch an an
ihrem Lebensabend keinen Kinobesuch oder ordentliche Zähne leisten können.
„Welcome to Hell“ hieß die berüchtigte Demo von Hamburg. Der Name passt.
Die neoliberale Politik der G20 begünstigt systematische Gewalt in
riesenhaften Maßstäben. Sie verhindert nicht, dass reiche Firmen Zulieferer
wählen, die ihre Waren unter grausamen Bedingungen in Sweatshops
herstellen. Arme Länder werden gezwungen, ihre Märkte für subventionierte
Waren zu öffnen, während die eigenen Märkte durch Zölle abgesichert werden.
800 Millionen Menschen hungern, obwohl das ein sehr leicht zu behebendes
Problem ist, wäre nur der Wille da. Unsere Kinder könnten aufgrund der
herrschenden Politik eine Welt erben voller „Hunger, Stürme, Kriege und
einer Sonne, die uns kocht“, wie es der Journalist David Wallace-Wells in
einem einflussreichen Artikel im New York Magazine zugespitzt formulierte.
Und wenn wir zugeben, dass Gewalt gerechtfertigt ist, um extreme
Bedrohungen abzuwehren, dann ist spätestens hier Gewalt gerechtfertigt.
Allerdings ist Notwehr nur sinnvoll, wenn damit die Gefahr tatsächlich
abgewehrt werden kann. Selbstverständlich gibt es Fälle in der Geschichte,
in denen Gewalt richtig und wichtig war – und ist. Die Nazis ließen sich
nur durch Gewalt beeindrucken und die Tutsi in Ruanda hätten die mordenden
Mobs der Hutu kaum mithilfe von Sitzblockaden abwehren können. Ein Gewehr
ist ein stärkeres Druckmittel als ein gutes Wort. Genau von dieser
„realistischen“ Annahme ging die Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth
aus.
Aber sie wollte es genauer wissen und verglich gemeinsam mit der
Politikwissenschaftlerin Maria J. Stephan statistisch Kämpfe zwischen
staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren im Zeitraum von 1900 bis 2006.
Das ist nachzulesen im preisgekrönten Buch „Why Civil Resistance Works“. Es
stellt sich heraus, dass militanter Widerstand in 26 Prozent der Fälle
erfolgreich war. Gewaltfreie siegten dagegen in 53 Prozent der Fälle.
Selbst im Kampf gegen brutale Regime wie in Osttimor oder gegen den
Diktator Marcos auf den Philippinen war gewaltfreier Widerstand wirksam.
Allerdings heißt gewaltfreier Widerstand mehr als nur die Teilnahme an
einer fröhlichen Demo. Gewaltfreier Widerstand beinhaltet Boykotts, laute
Proteste, Streiks, Blockaden und organisierte Nichtkooperation.
Diese Mittel sind laut Chenoweth darum so mächtig, weil sie viel eher dazu
geeignet seien, große Teile der Bevölkerung sowie internationale Akteure
auf die eigene Seite zu ziehen. Reagiert der Staat brutal gegen gewaltfreie
Akteure, kann das schnell für ihn nach hinten losgehen. Die Widerständler
bekommen dann zunehmend Beistand. Sogar innerhalb der Polizei und des
Militärs kann es zu Loyalitätsverschiebungen kommen. Und genau das
funktioniert: Der Gegner wird delegitimiert, weil eindeutig ist, dass er
sich falsch verhält. Der „moral highground“, die moralische Überlegenheit,
ist ein unverzichtbares Element in politischen Konflikten.
Der Rechten dient die Gewalt der Antifa als Geschenk, wie es auch Noam
Chomsky neulich in einem Interview erklärte. Dem Staat dienen militante
Aktionen als Grundlage für Hetze und autoritäre Maßnahmen. Nicht umsonst
setzte Innenminister de Maizière mit Freude linksradikale Steinewerfer mit
den totalitären Massenmördern des IS gleich.
Mindestens darum waren die Krawalle in Hamburg falsch. Deutlich
wirkungsvoller ist: blockieren, streiken, protestieren und breiten Teilen
der Bevölkerung zeigen, wie gewalttätig und dumm die neoliberale Politik
der G20 ist.
6 Oct 2017
## AUTOREN
Houssam Hamade
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