| # taz.de -- Nur kein sicheres Leben | |
| > Mit einer großartigen Bühnenadaption von „On the Road“, Jack Kerouacs | |
| > Klassiker über das Lebensgefühl der Beat Generation, starten die | |
| > Kammerspiele München in die neue Saison | |
| Bild: Jeder ist hier ein Dean Moriarty, ein Gesetzloser und Rumtreiber: das Ens… | |
| Von Annette Walter | |
| Es gibt wenige Romane in der amerikanischen Literaturgeschichte, die eine | |
| ähnlich fulminante Wirkung erzielten und die Popkultur so nachhaltig | |
| beeinflussten wie einst Jack Kerouacs Roman „On the Road“, der 1957 | |
| erschienen ist. Sein sprachlich rauschhaftes und wildes Porträt der Beat | |
| Generation hat bis heute nichts von seiner Faszination verloren und ist | |
| mehrfach inszeniert und verfilmt worden. Nicht verwunderlich, dass David | |
| Marton den Stoff nun an den Kammerspielen in München auf die Bühne bringt. | |
| Martons Ansatz ist zwar konventionell, also Sprechtheater im üblichen | |
| Sinne, aber dennoch keineswegs gediegen. Der gebürtige Ungar kommt | |
| ursprünglich vom Musiktheater und hat bereits „La sonnambula“ und „Figar… | |
| Hochzeit“ an den Kammerspielen inszeniert und dafür das Format Opernhaus | |
| gegründet, das es seit der letzten Spielzeit gibt. Sein Ansatz für „On the | |
| Road“ besteht darin, Wort und Musik virtuos zu mischen: Textpassagen aus | |
| dem Roman, die alle Darsteller rezitieren, wechseln sich mit raffiniert | |
| arrangierten Jazzsongs ab, ja, es ist fast eine Art Musical. | |
| Den SchauspielerInnen sind keine festen Rollen zugeordnet. So schlüpft | |
| jeder in die Rollen von Sal Paradise oder Dean Moriarty. Die stimmliche | |
| Präsenz von Jelena Kuljic, die wie eine Reinkarnation der jung verstorbenen | |
| Sängerin Amy Winehouse klingt, aber ebenso Pau Brodys grandios-groteskes | |
| Trompetenspiel machen den Soundtrack zu einem großartigen Ereignis. | |
| Doch auch der Rest des Ensembles agiert fantastisch. Thomas Schmauser gibt | |
| den sensiblen Proleten mit Goldkette und trifft mit der energischen Julia | |
| Riedler und dem virilen Hassan Akkouch auf ebenbürtige ProtagonistInnen. | |
| Was diesen Abend so besonders macht: Man bekommt als ZuschauerIn ein Gefühl | |
| für den ruhelosen Geist von Kerouacs Helden Sal Paradise, der in einer | |
| unstillbaren Gier nach Abenteuern durch das Amerika der 1950er Jahre reist. | |
| Es ist ein Lebensgefühl, das sich dem Kapitalismus entziehen will und all | |
| dessen Werte radikal negiert. „Alles ist besser, richtiger als das sichere, | |
| dieses safe Leben“, schreibt Diedrich Diederichsen dazu im Programmheft. | |
| Was romantisch klingt, ist für Paradise mit großen Entbehrungen verbunden: | |
| Er trifft auf Wanderarbeiter, Migranten, Landstreicher, Zuhälter, ist | |
| selbst Kriegsheimkehrer und Außenseiter, hat nur ein paar Dollar in der | |
| Tasche, ist aber trotz vieler Rückschläge nicht von seiner Vision eines | |
| exzessiven Lebensstils abzubringen. | |
| Sein Begleiter Dean Moriarty, dieser so charismatische wie skrupellose | |
| Mensch, ist dabei sein „edler Ritter“, der Motor für die atemlose Reise in | |
| Trucks und Cabriolets. Paradise schwankt zwischen Selbstzweifeln („Ich | |
| wünschte, ich wäre alles andere, nur nicht das, was ich trostloserweise | |
| bin, ein desillusionierter ‚Weißer‘ “) und dem Wunsch nach Erlösung, de… | |
| am Ende seiner Reise erlebt: „Aus dem dunklen Strudel meiner Seele blickte | |
| ich auf, ich lag in einem Bett zweieinhalbtausend Meter über dem | |
| Meeresspiegel auf dem Dach der Welt, und ich wusste, dass ich ein ganzes | |
| Leben, in der armseligen atomistischen Hülle meines Fleisches verbracht | |
| hatte, und ich hatte alle Träume der Welt.“ | |
| Es ist der Verdienst dieses Theaterabends, dass er den Konflikt seines | |
| Anti-Helden Paradise erlebbar macht und uns mitfühlen lässt, wie ihn seine | |
| Lebensgier und seine Furchtlosigkeit letztendlich aufreiben, aber ihm auch | |
| Momente vollkommenen Glücks schenken. | |
| Und wir lernen auch etwas über uns selbst: weniger konformistisch zu leben, | |
| weniger auf Sicherheit denn auf Wagnis bedacht zu sein. Auch wenn es uns | |
| einiges abverlangt, kann sich das auch in den heutigen bewegten Zeiten | |
| durchaus lohnen. | |
| 4 Oct 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Annette Walter | |
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