# taz.de -- Warum es gut ist, in Wilhelmsburg seine Nachbarn zu kennen – beso… | |
Inselstatus Leyla Yenirce | |
Liebe Insel, es mag sein, dass es mit dem Herbstanfang leiser wird in den | |
Straßen Wilhelmsburgs. Die Menschen ziehen sich zurück in ihren Wohnungen, | |
denn es ist kalt und nass – dachte ich. | |
Wo es aber mit Sicherheit nicht leiser wird, ist der Reiherstieg. Wer auf | |
der Hauptstraße wohnt und sein Bett am Fenster stehen hat, wird schnell | |
feststellen, dass viele der Anwohner*innen erst nachts richtig aktiv | |
werden. | |
Ja, das Milieu macht es manchmal richtig spannend, aber auch ziemlich | |
gruselig. Denn die Stimmen, die durch das gekippte Fenster in den Wohnraum | |
dringen, variieren von Schreien weiblicher Stimmen bis zu jubelnden | |
Party-Sauf-Meuten. Eine Bandbreite an Akustik, die vermuten lässt, dass | |
entweder verdroschen oder gefeiert wird. Bei Letzterem kann man sich | |
darüber freuen, dass die Menschen bei guter Laune sind, im Falle der | |
Dresche aber bleiben die Fragen: Schreite ich ein? Soll ich mich und meinen | |
Wohnort identifizierbar machen, wenn ich „Lass sie in Ruhe!“ aus dem | |
Fenster rufe? Tue ich den Menschen etwas Gutes, wenn ich die Polizei | |
alarmiere? Es ist doch ein Dilemma, liebe Insel. | |
Wer nachts durch die Straßen des Viertels streift, wird Zeuge davon, wie | |
viele Menschen nachts auf der Suche nach Substanzen sind, die ihnen nicht | |
gut tun oder bereits so betrunken, dass sie nichts mehr merken. Auch wer | |
drin ist, um die Misere draußen auszublenden und sich in seinen eigenen | |
vier Wänden in seinem Wohlstand suhlt, wird feststellen müssen, dass dies | |
einem nur mit geschlossenem Fenster gelingt. | |
Diejenigen, die behaupten, es mache ihnen nichts aus, in einem Viertel zu | |
wohnen, in dem Drogen- und Alkoholkonsum überpräsent ist, sind entweder | |
abgebrüht oder besitzen kein Mitgefühl. | |
Das Milieu stellt keine Bedrohung dar, aber es klatscht einem die soziale | |
Realität mitten ins Gesicht und das manchmal so doll, dass es weh tut. Und | |
es bleibt das Gefühl, dass man eigentlich nichts richtig machen kann. Oder | |
liebe Insel? Was ist dein Vorschlag? Bleibe ich ruhig, wenn ich sehe, wie | |
jemand Gewalt erfährt, mache ich mich schuldig. Schreite ich ein, könnte | |
ich jemandem auf dem Schlips treten, der*die mein Einschreiten gar nicht | |
wünscht. | |
Mein Vorschlag: Beim nächsten Mal, wenn ich etwas höre oder sehe, alarmiere | |
ich erst mal die Bekannten aus der Nachbarschaft und dann schreiten wir | |
gemeinsam ein. Wer die nicht kennt, könnte dies ja zum Anlass nehmen, an | |
ihre Türen zu klopfen. | |
Leyla Yenirce ist Kulturwissenschaftlerin und schreibt wöchentlich aus | |
Wilhelmsburg über Spießer*innen, Linke, Gentrifizierer*innen und den | |
urbanen Wahnsinn in der Hamburger Peripherie. | |
18 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Leyla Yenirce | |
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